Hirtenbrief zur österlichen Bußzeit 2008

Herr, sende Arbeiter in deinen Weinberg

Liebe Schwestern und Brüder in der Gemeinschaft des Glaubens,
liebe Mitbrüder im Priester- und Diakonenamt!

Am Beginn der österlichen Bußzeit drängt es mich, Ihnen einen persönlichen Brief über meine Sorge um den Nachwuchs an Priestern und Ordenschristen zu schreiben. Ich bin mir bewusst, dass dies nur in Verbindung mit der Sorge um Ehen geschehen kann, die im Glauben der Kirche sakramental geschlossen, in der Kraft der Gnade gelebt werden und zu christlichen Familien führen!

I
Ich möchte mich nicht bei den gängigen Analysen aufhalten, die in diesem Zusammenhang vorgelegt werden, jedoch bemerken: Diese Analysen stimmen nahezu alle darin überein, dass Wert und Würde einer dauernden Bindung an Gott und an den Partner/die Partnerin in der Ehe immer weniger verstanden werden; dass vielmehr die Grundausrichtung des Lebens weitgehend bestimmt wird vom Streben nach eigener Selbstverwirklichung, Sicherheit und Freiheit, die als Bindungslosigkeit verstanden wird. Solch ein geistiges Klima ist verständlicherweise ein wenig geeigneter Boden für die Erkenntnis, das Wachstum und die Reifung einer geistlichen Berufung.

Manche meinen, die Abschaffung des Zölibatsgesetzes und die Zulassung verheirateter Männer zum Priestertum könnte den Priestermangel erfolgreich beheben. Im übrigen müsse die Kirche die Veränderungen in der Welt ohne Wertung zur Kenntnis nehmen und dürfe nicht an veralteten Leitbildern und überholten Strukturen festhalten. Ähnliches gelte auch im Blick auf gescheiterte Ehen und die Wiederverheiratung Geschiedener.
All diese Meinungen übersehen die eigentliche Problematik. Sie liegt darin, dass ein entscheidendes Element unseres christlichen Glaubens geschwächt ist: sich auf Gott einlassen, sich Christus übereignen, das ganze Leben bedingungslos dem Willen Gottes unterstellen in dem Vertrauen, dass dieser Wille allein Heil ist. Denn an die Existenz Gottes glauben und sich Gott anvertrauen gehören ganz wesentlich zueinander.

II
Gott sei Dank, es gibt auch positive Zeichen in der Kirche und in der Welt von heute. Das ist voll anzuerkennen. Es gibt die leidenschaftlich gestellte Frage nach dem Sinn des Lebens. Die Frage nach Gott wird in der Öffentlichkeit, insbesondere in Werken der Kunst und in den Medien, wieder häufiger gestellt. Das Interesse am Religiösen ist im Wachsen begriffen. Zeitungen und andere Publikationen melden, die Deutschen seien doch religiöser, als allgemein angenommen werde. Es liege durchaus im Trend der Zeit, sich mit religiösen Fragen zu beschäftigen. Sogar die Ostdeutschen würden ab und zu über religiöse Themen nachdenken. Man wisse es sogar genau: jeder Fünfte tue das. Allerdings rate ich zu einem vorsichtigen Urteil. Denn diese Art der Religiösität, die sich in modischen Stimmungen und esoterischen Praktiken äußert, ist allenfalls ein Anknüpfungspunkt für unser Zeugnis von Gott, aber noch nicht der sichere Weg zum Christentum und zu dem Gott, den Jesus Christus geoffenbart hat.

Aber unabhängig von diesen Phänomenen gibt es in unseren Gemeinden Gläubige – Einzelne und Gruppen –, die nach geistlicher Erfahrung, nach Vertiefung in Glaube und Gebet verlangen. Und wir erfahren an vielen Stellen die engagierte Mitarbeit von Frauen und Männern, die besonders zu schätzen ist, wenn sie ehrenamtlich geschieht. All das sehe ich, und es erfüllt mich mit Freude und Dankbarkeit. Und natürlich höre ich bisweilen auch die berechtigte Klage, dass all dieses Positive nicht hinreichend gewürdigt wird. Verdrießlichkeit und Undankbarkeit sind aber nicht förderlich.

Als Seelsorger muss ich realistisch bleiben und die Lage zutreffend beurteilen. Ich kann es nicht verschweigen, dass es mir Sorge macht, wenn ich erfahre, dass die Zahl der Gottesdienstteilnehmer sinkt, die Zahl der Trauungen, Taufen, Erstkommunionen und Firmungen geringer wird. Freilich besagen statistische Erhebungen nicht alles. Die besorgte Frage bleibt immer unbeantwortbar: Wird aus dem Hören des Evangeliums und dem Empfang der Sakramente eine nachhaltige, bleibende und fruchtbringende Beziehung zu Gott: ein Glaube, der sich Gott anvertraut, sich Christus übereignet, das ganze Leben Gottes Willen unterstellt? Ich wiederhole: die Wirklichkeit Gottes zu glauben und sich Gott anzuvertrauen gehören wesentlich zueinander.

Der Mangel an Priestern und Ordenschristen wird immer schmerzlicher fühlbar. Gerade Frauen und Männer, auf die sich das Leben in unseren Gemeinden und Verbänden stützt, wissen nur zu gut, wie sehr sie den priesterlichen Dienst brauchen.

Wenn ich auf diesem Hintergrund in die Personalverzeichnisse unseres Erzbistums schaue, dann stelle ich fest: In den letzten 10 Jahren wurden zwar doppelt so viele Diakone zu Priestern geweiht wie im Jahrzehnt davor: 48 an der Zahl. Die positive Entwicklung ist eine Frucht des Internationalen Priesterseminars Redemptoris Mater in Berlin, das auf dem neokatechumenalen Weg Priester für die Neuevangelisierung in aller Welt heranbildet. Im Zeitraum der letzten 10 Jahre gab es aber auch ca. 100 Pensionierungen und Todesfälle unter den Priestern. Trotz der gewachsenen Anzahl der Neupriester ist das Durchschnittsalter der Priester gestiegen. Die Zahl der Ordenspriester und Ordensschwestern, für deren Dienst wir danken, ist im Gebiet unseres Erzbistums seit Jahrzehnten in bedrückendem Maß rückläufig.

III
Liebe Schwestern und Brüder, angesichts unserer Nöte rufe ich Sie in einer ungewöhnlichen Initiative zu einem vierzigtägigen Gebet um geistliche Berufungen auf, und zwar in der Zeit vom Guten-Hirten-Sonntag (13. April) bis Fronleichnam (22. Mai). Es soll eine „Gebetskette“ entstehen, die das ganze Erzbistum durchzieht und rund um die Uhr, Tag und Nacht, anhält.

Alle Gemeinden und Gemeinschaften mögen sich beteiligen und einzelne Gebetszeiten, Stunden oder ganze Tage oder Nächte übernehmen. Es ist an keine bestimmte Form des Gebetes gedacht. Auch die Alten und Kranken können zu Hause eine Gebetszeit übernehmen. So soll immer an mindestens einem Ort im Erzbistum eine verlässliche Gebetswache gehalten werden.

Vierzig Tage wollen wir vor dem Herrn der Ernte verbringen, damit er Arbeiter in seine Ernte sende.

Vorbereitet wird die Aktion vom Päpstlichen Werk für geistliche Berufe, der Diözesanstelle Berufe der Kirche und dem Theologenreferat.

IV
Liebe Brüder und Schwestern, liebe Mitbrüder, auch wenn wir in den genannten Wochen und dann immer wieder beharrlich um geistliche Berufe, vor allem um Priesterberufungen, beten, so wie der Herr es uns aufgetragen hat, – von heute auf morgen wird sich an unserer Situation wenig ändern. Da muss noch vieles geschehen. Doch möchte ich nicht zuerst von einer diözesanen Pastoralplanung sprechen, so notwendig strategische Überlegungen auch sind. Ich möchte vielmehr darum bitten, dass sich jeder und jede von uns fragt: Was soll und kann ich in dieser Lage über das Gebet hinaus tun?

Wir Priester sollten, so oft wir es ehrlich können, zeigen und aussprechen, dass Priestersein Freude macht und Erfüllung bringt. Ich bin überzeugt, dass viel mehr Priester ihren Dienst lieben als in sorgen- und kritikerfüllten Gesprächen hörbar wird. Es gibt freilich, und jeder von uns weiß das, genügend Anlässe zu Ärger und Kritik. Und es tut ja auch gut, wenn Mitbrüder – am besten bei Freunden – sich die Last von der Seele reden können. Dabei kann man durchaus darüber reden, was alles zu verbessern wäre –, am besten aber: jeder fängt bei sich selbst an. Die Pflege der Verdrossenheit hilft niemandem, am wenigsten aber denen, die sich die Frage nach ihrer Priesterberufung stellen.

Wir sollten uns wohl auch von Zeit zu Zeit an den Anfang unseres Weges im Dienst an der Kirche und den Schwestern und Brüdern erinnern. Wir sollten uns vor Augen führen, wofür wir Gott in unserem Dienst zu danken haben.

Sie, liebe Schwestern und Brüder in den Gemeinden, sind daran ganz wesentlich beteiligt: Es gibt doch den frohmachenden Gottesdienst, das gute Gespräch, die beglückende Begegnung, das Gespür für Gottes Gnade gerade in schwierigen Situationen und scheinbarer Erfolglosigkeit. Unser Klagen, so begreiflich es ist, sollte sich immer in einem Gleichgewicht befinden mit der Anerkennung des Guten und dem dankbaren Erzählen von der erfahrenen Freude im Dienste des Herrn.

Und geht es Ihnen, liebe Schwestern und Brüder, in Ihrem Leben nicht ähnlich wie uns Priestern? Dass Schwierigkeiten und menschliche Unzulänglichkeiten sich derart in den Vordergrund schieben, dass die beglückende Liebe vom Anfang des gemeinsamen Lebens nicht mehr zu tragen scheint? Und dass Sie die Krisen überwinden und die Treue durchhalten? Könnte nicht solche Treue eines Ehepaares manchen Priester vor Resignation bewahren und sogar motivieren, Schwierigkeiten zu meistern, statt ihnen auszuweichen? Dass er z. B. auch den Mut aufbringt, die Aufgaben des Pfarrers in einer zerstrittenen Gemeinde zu übernehmen? Wäre es nicht für den, der überlegt, ob er sich vom Herrn als Priester in den Dienst der Kirche rufen lassen soll, eine Ermutigung, wenn er erfährt, wie sehr die Gläubigen dem Priester vertrauen, wie sie die glaubwürdige Verkündigung des Wortes Gottes von ihm erwarten? Wie sie darauf vertrauen, dass er für die Spendung der Sakramente stets zur Verfügung steht und für ein geistliches Gespräch oder aber auch „als Klagemauer“ in menschlicher Not und als Helfer bei Gott im fürbittenden Gebet?

Wir Priester aber müssen uns sagen: Wenn ein junger Mann oder ein Spätberufener den Priester niemals außerhalb des Gottesdienstes in der Kirche sieht, niemals beim Breviergebet, niemals in froher Gemeinschaft mit seinen Mitbrüdern, kann er ohne diese Eindrücke überhaupt eine Ahnung vom priesterlichen Leben bekommen?

Liebe Schwestern und Brüder, es ist ein sehr persönlicher Brief geworden, den ich Ihnen geschrieben habe. Ich kann unmöglich in diesen wenigen Zeilen alles sagen, was mich in der Frage nach dem Priester- und Ordensnachwuchs noch bewegt. Soviel ist aber hoffentlich deutlich geworden: dass gute Priester zwar vom Herrn erbeten sein müssen, dass aber auch der Boden bereitet sein muss; dass auch das beharrliche und gläubige Gebet, zu dem der Herr uns auffordert, allein nicht ausreicht, sondern dass uns allen die Sorge und Verantwortung für die geistlichen Berufe in einer viel umfassenderen Weise aufgetragen ist; und dass es zu allererst darauf ankommt, den Glauben an den dreieinigen Gott zu leben, in der eigenen Familie und in der Gemeinde: den Glauben, der sich Ihm bedingungslos anvertraut, sich Christus übereignet, das ganze Leben dem Willen Gottes unterstellt.

Damit uns die Gnade geschenkt sei, segne uns der allmächtige und gütige Gott, der Vater, der Sohn und der Heilige Geist.

Ihr Erzbischof
+ Georg Cardinal Sterzinsky

Berlin, am Gedenktag des heiligen Franz von Sales, 24. Januar 2008