Predigt während der Herbst-Vollversammlung

der Deutschen Bischofskonferenz in Fulda am 22. September 2010

Spr 30,5–9

„Ein Schild ist Gott für alle, die sich bei ihm bergen“

Als Bischöfe suchen wir bei unseren Vollversammlungen nach dem Weg der uns anvertrauten Ortskirchen in die Zukunft. Wenn wir überlegen, wie es weitergehen soll, müssen wir uns auch der Lage bewusst sein, in der wir – als Kirche! – uns befinden.

Seit Jahren sprechen wir von Umbrüchen und Aufbrüchen, von Krisen und manchen Erneuerungsbewegungen, von Rückgang und manchen Neuansätzen, von Enttäuschungen und Hoffnungen.

Was gilt? Das Schlüsselwort, das als universales pastorales Erfolgsrezept dienen könnte, hat keiner gefunden. Aber – wie wir eben in der Lesung aus dem Buch der Sprichwörter gehört haben -: „Jede Rede Gottes ist im Feuer geläutert; ein Schild ist er für alle, die sich beim ihm bergen“.

Das biblische Buch der Sprichwörter ist früher entstanden als die Kirche. Aber die Kirche bekennt sich zu ihm als kanonischem Buch und liest es in ihren Gottesdiensten. Wir tun gut daran, seine Botschaft für die Kirche von heute zu bedenken.

Ein Erstes:

Wenn wir bei Gott geborgen sind, weil wir seinem Wort trauen, dann gilt die Mahnung: „Füg seinen Worten nichts hinzu, sonst überführt er dich, und du stehst als Lügner da“. D. h. gib nicht als Wort Gottes aus, was nicht Wort Gottes ist!

Jede menschliche Gemeinschaft braucht auch ihre eigenen Regeln und Ordnungen, Gesetze und Weisungen. Je größer diese Gemeinschaft und je differenzierter ihre Gliederungen, umso umfangreicher und komplizierter wird dieses Ordnungs-Werk mit unterschiedlichen Verbindlichkeiten. Und was sich bewährt hat, verwirf nicht unbedacht! Aber begründe es nicht mit Gottes Wort, wenn es nicht in Gottes Wort begründet ist!

Ein Doppeltes also: Taste Gottes Wort nicht an, stell es nicht in Frage, deutle nicht daran herum! Aber umgekehrt: Gib nicht menschliche Satzung, und sei sie noch so vernünftig und zielführend, als göttliche Weisung aus! Auch Alter macht eine Einrichtung nicht sakrosankt und unabänderlich. Das gilt für den Einzelnen; das gilt für die Kirche!

Ein Zweites:

Im ganzen Buch der Sprichwörter steht nur ein einziges Gebet, und das ist recht kurz. Der Beter fleht um zweierlei:

„Falschheit und Lügenwort halt fern von mir;
gib mir weder Armut noch Reichtum,
nähr mich mit dem Brot, das mir nötig ist;
damit ich nicht, satt geworden, dich verleugne
und sage: Wer ist denn der Herr?,
damit ich nicht als Armer zum Dieb werde
und mich am Namen Gottes vergreife.“

1. „Falschheit und Lügenwort halte fern von mir.“

Der Beter nimmt hier den Gedanken von der Unantastbarkeit des Wortes Gottes auf und scheint besorgt, er könnte dem Wort Gottes etwas hinzufügen und so zum Lügner werden. Aber es geht wohl auch um die Ehrlichkeit und Lauterkeit der Rede und des Denkens überhaupt. Auffallend, dass diese Geradheit und Wahrhaftigkeit als göttliche Gabe erbeten wird. Empfinden wir sie nicht als Tugend, die durch persönliches Bemühen und Erziehung erworben werden muss? Sie ist gewiss beides.

Man nimmt Christen, speziell uns Katholiken, Verschlagenheit, Doppelzüngigkeit und Hinterhältigkeit besonders übel. Ich erinnere mich, dass man früher Heuchelei und Falschheit den Katholiken als Charakteristikum anhängte.

Was ist dagegen zu tun?

Im Zusammenhang mit den Vorwürfen, sexueller Missbrauch sei allzu lange vertuscht worden, es sei mit zweierlei Maß gemessen worden, war auch von Plänen vertrauensbildender Maßnahmen die Rede. Ich halte von solchen Plänen wenig. So schmerzlich es ist, dass nicht nur den Zeugen des Evangeliums Misstrauen entgegenschlägt, sondern auch dem Evangelium, meine ich: vertrauensbildende Maßnahmen mögen in der Politik effektiv sein; in der Kirche geraten sie in den Verdacht trickreicher Strategie. Der Hörer vermutet Absicht und ist verstimmt. Der Zeuge Christi muss schlicht lauter und arglos sein. Um diese Lauterkeit muss er sich mühen. Um sie muss er beten, damit sie ihm geschenkt wird. Irgendwann wird sie überzeugen.

2. „Nähr mich mit dem Brot, das mir nötig ist.“

Der Beter wünscht sich weder Armut noch Reichtum. Stoische Bedürfnislosigkeit? Bürgerliche Bescheidenheit?

In welchem Sinn betet die Kirche um das „Brot, das uns nötig ist“?

Ihr ist nicht die Sorge um die ökonomische und gesellschaftspolitische Ordnung der Menschheit übertragen; doch ist sie aus der Sorge um das Wohl der Menschen nicht entlassen. Deshalb hat sie eine Soziallehre entwickelt und entfaltet, nach der die Gesellschaft dafür sorgen soll und kann, dass niemand unter Armut leiden muss und Reichtum nicht ungerecht wird.

Die Kirche muss freilich dafür sorgen, dass sie selbst der Mittel nicht entbehrt, die sie nötig hat zur Erfüllung ihrer Aufgaben. Aber sie hat in ihrer Geschichte auch Erfahrungen gemacht, wie sich Armut und Reichtum für sie auswirken können.

In der Lesung hören wir: Sie können zur Versuchung werden. In der zugespitzten Sprache der Bibel: „Satt geworden, kann ich sagen: Wer ist denn der Herr? und ihn verleugnen; arm geworden, kann ich zum Dieb werden und mich am Namen Gottes vergreifen.“

Eine Kirche, die arm ist und gerade nur das hat, was sie braucht, wird klein sein vor Gott und den Menschen; so aber wird sie wahrhaftig und den Versuchungen widerstehen können.

Durch die Erfahrungen der letzten Jahre wird die Kirche klein werden vor Gott.

Hat sie sich nicht immer dazu bekannt, dass sie vor Gott klein ist? In ihren feierlichen Bekenntnissen, in ihren Gebeten und Liturgien selbstverständlich! Da ist sie ihren theologischen Einsichten und den Heiligen Schriften gefolgt.

Aber das hat sie oft genug nicht daran gehindert, sich so sehr auf der Seite Gottes platziert und von seiner Herrlichkeit durchdrungen zu fühlen, dass sie im Bewusstsein ihrer Würde vergaß, wie klein und zerbrechlich sie doch auch ist.

Die Bekenntnisse von Versagen und schwerer Schuld auch bei Geweihten und Verantwortlichen führen uns zu einer tieferen existentiellen Erkenntnis der im Credo bekannten Heiligkeit und dessen, was wir meinen, wenn wir die heilige Kirche eine Kirche der Sünder nennen müssen.

Eine Frucht der harten und bitteren Erfahrungen der letzten Zeit kann auch sein, dass wir als Kirche klein werden vor den Menschen.

Seit längerer Zeit stellen wir fest, dass der Einfluss der Kirche in der Gesellschaft schwindet. Eine Feststellung ist natürlich kein Einverständnis. Und es kann ja auch nicht unser Einverständnis finden, wenn Werte, die wir nach ernsthafter Prüfung im Namen Gottes und nicht auf Grund menschlicher Tradition vertreten und verteidigen müssen, preisgeben werden, so – um nur naheliegende Beispiele zu nennen – die Unantastbarkeit menschlichen Lebens vom Beginn bis zum Ende, und das unter allen Umständen und ausnahmslos;  oder die einzigartige, nicht relativierbare und unersetzbare Bedeutung der Ehe und Familie. Leider sind solche Schritte des Verlusts in Politik und Judikatur unübersehbar.

Wenn die Kirche nach der Zahl ihrer Glieder oder ihrer Einrichtungen kleiner oder in ihrer Finanzkraft schwächer wird, kann das keinem von uns unberührt lassen. Aber wenn sie dabei „authentischer“ wird, d. h. dieser Wandel aus der Treue zum Wort Gottes kommt oder – um mit dem Buch der Sprichwörter zu sprechen – weil sie der Versuchung des Reichtums oder der Armut nicht erlegen ist, hat sie gewonnen.

Ich habe gefragt: Wie betet die Kirche unserer Tage das einzige, recht kurze Gebet, das sich im Buch der Sprichwörter findet? Es bittet um das tägliche Brot und um Bewahrung vor Versuchung. Und so beten wir ja auch im Herrengebet, das uns die Evangelien überliefert haben.

Wenn uns von Gott gegeben wird, was wir nötig haben, und in den Versuchungen bestehen, werden wir den Weg finden, nach dem wir fragen.

Amen.