Seit 2016 lebt Yousuf, ein 32-jähriger Mann aus Afghanistan, in Berlin. Seit 2019 ist er in Deutschland als Flüchtling anerkannt; inzwischen hat der studierte Chemiker eine Ausbildung zum Chemielaboranten begonnen. Yousuf ist nicht sein richtiger Name, ich will ihn für diese Geschichte so nennen. Im Berliner Büro des Jesuiten-Flüchtlingsdienstes (JRS) durfte ich Yousuf kennenlernen, er hat mir seine Geschichte erzählt, die leider noch kein gutes Ende gefunden hat. Denn seine Frau und seine fünfjährige Tochter dürfen nicht nach Deutschland nachziehen.
Auch wer nur ab und zu die Nachrichten aus Afghanistan verfolgt, kann sich eine Vorstellung machen, welche Sorge Yousuf um seine Familie umtreibt: die Machtübernahme durch die Taliban hat weitreichende Folgen: Menschen, die für die früheren Machthaber oder ausländisches Militär gearbeitet hatten, können ihres Lebens nicht mehr sicher sein, Frauen wird der Zugang zu Bildung und dem öffentlichen Leben erschwert bis verboten, die Taliban versuchen buchstäblich mit aller Macht ihre Herrschaft zu etablieren. Gleichzeitig schlagen die Vereinten Nationen Alarm, Millionen Menschen sind mittlerweile nicht mehr in der Lage, sich selbst zu ernähren, die Welternährungs-Organisation FAO der Vereinten Nationen warnt vor einer zunehmenden Nahrungsmittelknappheit in Afghanistan, die Ursache sieht sie neben Dürre, der schweren ökonomische Krise auch im Zusammenbruch bäuerlicher Betriebe. Es muss schwer sein, seine nächsten Angehörigen in einer solchen Situation zu wissen und nichts unternehmen zu können. Immerhin konnten Yousufs Frau und Tochter nach Pakistan fliehen, aber auch dort sind sie „illegal“.
Was mich besonders bestürzt hat: Yousuf konnte seine Tochter bisher kaum kennenlernen. Seine Flucht aus Afghanistan muss kurz nach ihrer Geburt erfolgt sein. Als er von seiner Tochter erzählte, musste ich an meinen Vater denken. Auch er hatte durch den Krieg und seine Folgen meine Schwester mehr als fünf Jahre lang nicht gesehen. Ein Leben lang prägte diese Trennung ihre Beziehung.
Yousuf ist freundlich, höflich und spricht sehr gut Deutsch, gleichzeitig sind seine Sorge und Angst fast schon mit Händen zu greifen. Und es fällt ihm zunehmend schwer, die Hoffnung seiner Frau lebendig zu halten, die Hoffnung auf Familiennachzug. Denn obwohl er den Antrag schon kurz nach seiner Anerkennung gestellt hat und obwohl es ein Recht auf Familiennachzug gibt, liegt immer noch kein Ergebnis vor. „Wie lange dauert es noch?“ fragt seine Frau am Telefon immer wieder und widerspricht ihm, wenn er von Monaten oder gar Wochen spricht. Jahre würde es wohl noch dauern, sagt sie und die Verzweiflung wächst – auf beiden Seiten.
Yousufs Frau ist krank geworden und leidet unter Allergien, sie ist bei Bekannten illegal in Islamabad untergekommen, die Unsicherheit geht ihr an die Substanz. Nur über das Telefon und über Geldsendungen bleibt Yousuf mit seiner Familie in Verbindung.
Unterstützung bekommt der junge Geflüchtete vom Jesuiten-Flüchtlingsdienst. Die Beraterinnen und Berater kennen diese Situation des schier endlosen Wartens, denn anders als im Advent Weihnachten gewiss ist, hat dieses Warten keinen sicheren Endpunkt. Die Berater wissen auch um die Folgen, die das für die Geflüchteten selbst hat. Wenn sie in Angst und Sorge um ihre Familien sind, fallen ihnen Integration, Ausbildung, Sprachkurs sehr viel schwerer, eine Zukunfts-Perspektive entwickeln die meisten erst, wenn die Familie da ist. Bis dahin wirken junge Männer wie Yousuf oft wie blockiert. Was seinen Antrag angeht, sind die Beraterinnen und Berater aber auch hilflos. Den Antrag auf Familiennachzug musste Yousuf an die deutsche Botschaft in der pakistanischen Hauptstadt Islamabad schicken, da die in Kabul durch einen Bombenanschlag zerstört worden ist. In der Botschaft werden die Unterlagen geprüft, Betrug soll ausgeschlossen, eigene Recherchen ermöglicht werden. Das ist bis zu einem gewissen Punkt nachvollziehbar, aber es ist unklar, wo sich die Unterlagen im Moment befinden. Am Ende muss die Berliner Ausländerbehörde entscheiden, weil Yousuf als anerkannter Flüchtling in Berlin lebt. Sie prüft ihrerseits den ganzen Fall noch einmal gründlich.
Der Jesuit Refugee Service (JRS) entstand in Jahr 1980 zur Unterstützung der vietnamesischen Bootsflüchtlinge und ist mittlerweile zu einer Hilfsorganisation für Flüchtlinge auf der ganzen Welt angewachsen und reagierte auf unterschiedliche Konflikte in Mittel- und Lateinamerika, Südosteuropa und Afrika. Heute ist er mit etwa 1.200 Mitarbeitenden in mehr als 50 Ländern vertreten. In Deutschland engagiert sich der Jesuiten-Flüchtlingsdienst für Abschiebungshäftlinge und Menschen mit unsicherem oder ohne Aufenthaltsstatus, er bietet Seelsorge und Rechtsberatung in der Abschiebungshaft und in Aufnahmeeinrichtungen für Asylsuchende, u.a. aktuell in Eisenhüttenstadt an der polnischen Grenze, wo viele Flüchtlinge aus Belarus ankommen. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bieten Härtefallberatung und Verfahrensberatung bei Aufenthaltsproblemen an. Vor allem aber gibt der JRS geflüchteten Menschen in der Öffentlichkeit eine Stimme und nimmt Stellung zu Entwicklungen in der Flüchtlingspolitik. Im Berliner Team arbeitet ein junger Mann, der selbst aus Afghanistan geflohen war mittlerweile in der Partizipationsberatung. Er begleitete Yousuf in unserem Gespräch und machte mir über die persönliche Betroffenheit hinaus deutlich, wie untragbar Yousufs Situation ist. Es ist unzumutbar, Menschen eine so lange Zeit im Ungewissen zu lassen.
Nicht nur, weil Weihnachten das „Fest der Familie“ ist, fordere ich, den Familiennachzug – so wie es geltendes Recht ist – umzusetzen und die entsprechenden Anträge zügig zu bearbeiten. Es braucht eine Beschleunigung der Verfahren und eine Verbesserung der Kommunikation zwischen den einzelnen Behörden, Ämtern und Botschaften; es muss ausreichen, wenn einmal die Korrektheit der Unterlagen geprüft wird. Ob es an politischem Willen, einer Überbürokratisierung des Verfahrens oder an einer Überforderung der Behörden – sicherlich auch Corona-bedingt – liegt, mag ich nicht einschätzen.
Der Koalitionsvertrag der neuen Bundesregierung macht Hoffnung, was die Familienzusammenführung angeht. Familienzusammenführung müsse „im Sinne der Integration und der Aufnahmefähigkeit der Gesellschaft gestaltet werden“, heißt es dort, „beim berechtigten Elternnachzug zu unbegleiteten Minderjährigen“ werde man „die minderjährigen Geschwister nicht zurücklassen. Zum Ehepartner oder zur Ehepartnerin nachziehende Personen können den erforderlichen Sprachnachweis auch erst unverzüglich nach ihrer Ankunft erbringen“.
Und auch der Koalitionsvertrag der künftigen Berliner Landesregierung liegt auf einer ähnlichen Linie, man wolle landesrechtliche Möglichkeiten ausschöpfen, um Familiennachzug zu erleichtern. Und sich „im Bund für die Streichung der Kontingentierung beim Familiennachzug für subsidiär Schutzberechtigte“ einsetzen sowie für eine „erleichterte Härtefallregelung zum Nachzug von Geschwisterkindern zu anerkannten minderjährigen Flüchtlingen und von jungen Erwachsenen zu hier lebenden Angehörigen“.
Auch wenn hier nichts über eine Verbesserung des Verwaltungsablaufs gesagt ist, besteht Hoffnung.
Bei Yousuf, der sich mittlerweile hat taufen lassen, halten sich Hoffnung und vorweihnachtliche Freude in Grenzen, für ihn klingt die Erzählung von der Geburt im Stall, vom „Happy End“ mit Hirten und Engeln und „Gloria in excelsis“ nicht überzeugend, für ihn, seine Frau und seine kleine Tochter endet der Advent nicht mit „Frohen Weihnachten“.
Allenfalls weiß er sich solidarisch verbunden mit der Heiligen Familie, die – der biblischen Überlieferung zufolge – gleichfalls vor den Truppen des Herodes fliehen musste, der das Kind töten lassen wollte.
Auch ich darf Weihnachten mit vielen Menschen gemeinsam feiern. Ich weiß mich in diesen Tagen auch mit denen verbunden, die heute nicht die Geburt des Gottessohnes sondern einfach nur ein Familienfest feiern. Meine Gedanken und mein Gebet gelten aber gerade in der Heiligen Nacht all denen, die wie Yousuf ohne Familie feiern, all denen, die heute Abend alleine, traurig oder einsam sind. Ihnen wünsche ich ganz besonders ein gesegnetes Weihnachtsfest: Gott ist ganz nahe bei uns – und sei es in einem Stall.