Jana hat Geburtstag. Daher treffen sich Jana, Lissy, Nieves, Anna, Gertrud und Micha diesmal im Rotbart, einer Kneipe in Neukölln. „Herr, wir freuen uns, dass wir heute hier zusammen sind und Du in unserer Mitte bist“, betet Lissy. Laute Musik dringt aus dem Nebenraum. Der Kellner stutzt und stellt sein Tablett zunächst auf einem der freien Nachbartische ab.
Einmal im Monat sind die sechs katholischen Neuköllner miteinander verabredet. Sie sprechen über Gott und ihren Glauben. Sie verstehen sich als „Casa“, als Hauskirche. So bildet der Kneipenbesuch an diesem Mittwoch auch eine Ausnahme. In der Regel treffen sie sich reihum in ihren Wohnungen in Neukölln. Seit 2007 existiert ihr Kreis. Nicht alle sind von Anfang an dabei. Immer wieder kommen Teilnehmer hinzu, andere verlassen den Kreis. Einmal nahmen sie eine Neugründung vor, als die Gruppe zu groß wurde.
Anna ist das jüngste Mitglied dieser Hauskirche. Die Mecklenburgerin zog mit ihrem Mann von Stuttgart nach Berlin. In der Pfarrei St. Christophorus und dort insbesondere in der Casa fand sie ihre spirituelle Heimat: „Das hier ist für mich das eigentliche Gemeindeleben. Ich gehe selbstverständlich in den Sonntagsgottesdienst. Aber das Reden über den Glauben, das Reflektieren unserer Beziehung mit Gott findet hier statt.“ Glauben und Leben in der vertrauten Atmosphäre einer kleinen Gruppe zu teilen, das ist das Ziel von Hauskirchen.
Wo wirkt Gott im Alltag?
„In der Freiheit der Kinder Gottes wollen wir darüber sprechen, was wir in den letzten Wochen mit Gott erlebt haben und was wir teilen möchten.“ Lissy moderiert an diesem Abend den Kreis. In einer ersten Runde berichten die Teilnehmenden über Erfahrungen mit Gott im Alltagsleben, über Zweifel, Sorgen und Nöte, über Hoffnungen, Glückmomente und positive Entwicklungen. Wo wirkt Gott im Alltag? Erlebnisse aus dem Arbeitsleben, Probleme der Arbeitssuche, ein strahlender Regenbogen wie eine Antwort Gottes, Stress, der kranke Vater, die umziehende Mutter, der scheinbar schweigende Gott, eine neue, wohltuende Meditation, fehlende Zeit für Gott – es kommt all das zur Sprache, was die einzelnen in ihrer Beziehung mit Gott bewegt. Die anderen: sie hören zu, fragen, geben Empfehlungen, äußern Wünsche. „Hier könnt ihr für mich beten“, heißt es immer wieder. Die Gruppe nimmt regen Anteil. In einer zweiten Runde betet die Gruppe. Wer ein konkretes Anliegen hat, äußert es jetzt. Lissy fasst alles zusammen: den kranken Vater, die Sorgen um die Kinder, den Ort des Treffens. „Es ist gut zu wissen, dass andere für einen beten“, betont Gertrud.
Gertrud ist seit der Gründung Teil der Hauskirche. Sie spricht von langfristiger Wegbegleitung, davon, miteinander auf dem Weg zu sein, wenn sie an die vergangenen acht Jahre zurück denkt. „Man wird getragen.“ Nieves kam zur Casa, nachdem sie neu zum Glauben gefunden hatte. „Ich habe damals ganz bewusst einen Ort neben dem Gottesdienst gesucht, an dem ich mehr über meinen Glauben erfahren kann und Lebenszeugnisse von anderen höre, an dem es möglich ist, auch mal nachzufragen und über meine Erfahrungen zu sprechen.“ Für Jana holt die Casa den Glauben und das, „was man mit Gott Aufregendes erleben kann“, in den Alltag. „Es geht darum: Wie lebe ich die Beziehung mit Gott und meinen vielen kleinen und größeren ,Kreuzen‘, die ich weiter trage, wenn ich von den Stufen der Kirche nach der Sonntagsmesse hinabgestiegen bin.“ Lissy empfindet die Casa als Quelle, an der sie mitten im Alltag trinken und zu sich kommen kann. „In der Casa übe ich, das ins Wort zu bringen, woran ich glaube“, sieht Micha die Hauskirche als Lernort im Glauben. „Sie gibt mir ein anderes Glaubensselbstbewusstsein. Ich kann plötzlich ausdrücken, warum ich an Christus glaube. Das festigt mich wiederum im Diskurs mit anderen.“
Verknüpft mit der Pfarrei
Insgesamt gibt es acht Hauskirchen im Umfeld der katholischen Kirche Nord-Neukölln. Pfarrer Kalle Lenz aus der Pfarrei St. Christophorus, Gemeindereferentin Anja Breer aus der Pfarrei St. Clara und Pastoralreferentin Lissy Eichert führten diese Form kirchlichen Lebens, inspiriert von der pallottinischen Spiritualität, in Nord-Neukölln ein. Heute bilden Hauskirchen einen festen Bestandteil lebendigen Gemeindelebens. Sie bieten Heimat im alltäglichen Glaubensleben. Viele Mitglieder bringen sich aktiv in die Gemeinden ein, engagieren sich in Gottesdienstgestaltung und sozialen Projekten. Die gemeinsame Firmvorbereitung der Pfarreien St. Clara, St. Christophorus und St. Richard erfolgte in Hauskreisen.
Die Leitungen der Hauskirchen werden durch das Nord-Neuköllner Pastoralteam begleitet. Drei- bis viermal im Jahr kommen sie in einem Netzwerktreffen zu Austausch und Gebet zusammen. Pfarrer Lenz mailt regelmäßig einen geistlichen Impuls, einen Text aus dem Evangelium sowie Fragen und Gedanken, die die Kreise aufgreifen können. Einige der Hauskirchen beschäftigen sich mit diesem Impuls, andere führen ein Bibelgespräch, wieder andere treffen sich als Gebetskreis oder sprechen über ihr Glaubensleben im Alltag – so wie es auch die Gruppe von Jana und Lissy macht.
Inspiriert durch die Erfahrungen in Nord-Neukölln entstanden mittlerweile Hauskirchen in Köpenick, Friedrichsfelde, Marzahn oder in Rudow. Gemeindereferentin Sabine Kräutelhofer engagiert sich in Friedrichsfelde. Für sie bieten Hauskirchen für katholische Christen die Chance, ganz unabhängig von pastoralen Mitarbeitern, Kirche zu leben, rein aus der Gotteskompetenz, die jeder Getaufte mit sich bringt. „Mich selbst zu fragen: Wie lebe ich meine Beziehung mit Gott? Und gleichzeitig zu hören, wie andere ihre Beziehung mit Gott leben, das geschieht in einer Hauskirche“, betont Kräutelhofer, „mit Gott reden und über das Reden mit Gott reden.“ Wichtig ist ihr, dass die Hauskirchen, Hauskreise, Casas, Bibelkreise, Gebetskreise an die Gemeinde angebunden sind und stets auf sie hinführen. Zu Kuschelecken dürften sie sich nicht entwickeln.
Geht es nach Sabine Kräutelhofer und Lissy Eichert, könnten Hauskirchen dem Pastoralen Prozess „Wo Glauben Raum gewinnt“ einen Impuls geben. „Hauskirchen bilden Orte der Glaubenserfahrung, die gerade in größeren Pastoralen Räumen wertvoll sein können“, meint Kräutelhofer, „in ihnen besteht die Möglichkeit, Nähe innerhalb der Glaubensgemeinschaft zu erleben und zu leben.“ Allerdings, so Eichert, können Hauskirchen keine generelle Antwort auf eine sich verändernde pfarrkirchliche Realität bilden. Sie müssten als eine Initiative von unten betrachtet werden, betont sie, für die zum einen das Bedürfnis unter den Gläubigen für einen solchen persönlichen Austausch und zum anderen der Gründermut Einzelner erforderlich ist. „Es braucht Menschen, die den Mut besitzen, einen Hauskreis zu gründen. Ich brauche bei dieser Form kirchlichen Lebens nicht darauf zu warten, dass etwas ,von oben‘ passiert, außer Pfingsten natürlich…!“, ist Eichert überzeugt. Vielmehr gelte es, wenn nötig, Unterstützung anzufordern.