Eine Kirche wurde abgerissen, eine neue auf ihren Fundamenten erbaut. Auf Berlins einstigem Todesstreifen an der innerdeutschen Grenze symbolisieren diese Kapelle und ein Roggenfeld die christliche Hoffnung auf Versöhnung.
Versöhnung ist zeitlos. Ein architektonischer Beleg dieser Aussage findet sich in Berlin. 1894 wurde hier die evangelische Versöhnungskirche eingeweiht. Sie wurde im Zweiten Weltkrieg stark beschädigt, doch obwohl sie ab 1945 genau an der Grenze des Sowjetischen und Französischen Sektors Berlins lag, wurde sie 1950 wiederhergestellt und bis 1961 für Gottesdienste genutzt. Durch den Mauerbau am 13. August 1961 verschärfte sich die Grenzsituation der Versöhnungsgemeinde drastisch, denn bereits am 21. August wurde das Hauptportal der Kirchenmauer – etwa zehn Meter vor dem Gebäude – drei Meter hoch zugemauert. Den West-Berliner Gemeindemitgliedern war es von nun an nicht mehr möglich, die Kirche zu besuchen, da sich die Kirche sowie das Pfarr- und Gemeindehaus im Ostteil Berlins befanden. Ab 23. Oktober 1961 durfte die Kirche auch von Ost-Berliner Kirchgängern nicht mehr besucht werden. Sie befand sich im Todesstreifen und wurde zunächst geschlossen. Später wurde der Kirchturm von DDR-Grenztruppen als Wachturm mit MG-Geschützstand genutzt. 1985 wurde sie gesprengt.
Im Auftrag der evangelischen Versöhnungsgemeinde wurde nach der Wende auf den Fundamenten der abgerissenen Versöhnungskirche an der Bernauer Straße eine neue Kapelle der Versöhnung gebaut und am 9. November 2000 eingeweiht. Sie ist Teil der dortigen Mauergedenkstätte, eine der zentralen Stellen des Gedenkens an die Opfer der Berliner Mauer.
Kapelle der Versöhnung – dieser Name ist Programm. Beim Bau wurde Altes mit Neuem verbunden: Auf den Fundamenten des einstigen Chorraums steht das neue Kirchenschiff in Lehmbauweise. Dabei wurde zermahlener Bauschutt der alten Kirche dem Lehm für den Bau der neuen untergemischt. Das alte Altarretabel mit der Abendmahlsszene Christi aus der Versöhnungskirche wurde in die Kapelle integriert. Die Glocken aus der alten Kirche sind in einem gesonderten Gerüst aufgehängt. Auch die Orgel auf der kleinen Empore stimmt versöhnlich an. Seit 2017 erklingt dort eine Schuke-Orgel, die die vier Besatzungsmächte USA, Frankreich, England und Sowjetunion mit charakteristischen Registern klanglich wiedergibt. So hört sich das russische Register wie ein Knopf-Akkordeon an.
Dienstags bis freitags finden in der Kapelle um 12 Uhr Andachten statt, um jeweils eines der 138 Opfer an der Berliner Mauer zu gedenken. Samstags wird die Versöhnungslitanei von Coventry gesprochen, denn die Mauergedenkstätte gehört zu einer weltweiten Gemeinschaft, die sich neben der Versöhnungs- auch der Friedensarbeit unter den Völkern verschrieben hat. Daher wird samstags an das Schicksal eines Geflüchteten erinnert, der an der EU-Außengrenze zu Tode gekommen ist. „Auch 20 Jahre nach ihrer Einweihung hat die Kapelle nicht an Attraktivität verloren: Sie ist ein außergewöhnlicher spiritueller Ort, der Stille und Reflexion ermöglicht“, bilanziert Professor Axel Klausmeier, Direktor der Stiftung Berliner Mauer.
Wo einst der Tod wartete, wächst neues Leben
Vom Todesstreifen zum Ort des Lebens – an der Bernauer Straße ist das Wirklichkeit geworden. Seit 15 Jahren wird dort Roggen angepflanzt. Die Idee geht auf den Bildhauer Michael Spengler zurück, der besondere Grabmale – „denkwerke“, wie er sie nennt – herstellt. Als er an einem Grabmal, das die äußere Form eines Mühlsteins hatte, arbeitete, auf dem der Spruch „Und so lang du das nicht hast, dieses stirb und werde, bist du nur ein trüber Gast auf der dunklen Erde“ aus einem Goethe-Gedicht eingemeißelt werden sollte, wurde er nachdenklich. Das Samenkorn stirbt im Mahlprozess in der Mühle und schenkt dann Leben. Mit einem Roggenfeld wollte er das veranschaulichen – aus dem Todesstreifen kann ein Ort des Lebens werden. 2005 war es so weit, es wurde das erste Mal ausgesät. Man kann an dem Feld den Kreislauf des Lebens nachvollziehen, Ende September wird ausgesät, im Juli wird geerntet. Zwischen Ernte und Aussaat hat das Areal auf dem heutigen Gelände der Mauergedenkstätte Bernauer Straße Ähnlichkeit mit dem einstigen Todesstreifen.
„So ist seit 15 Jahren die Kapelle der Versöhnung eingebettet in ein Roggenfeld. Die Kirchengemeinde lebt nicht mehr nur mit dem Kirchenjahr und seit der Friedlichen Revolution mit den Jahrestagen der Gedenkanlässe zur Teilungsgeschichte unseres Landes. Hinzu kommt das Mitleben im bäuerlichen Jahr, zwischen Aussaat und Ernte. Wir leben mit den Kornsäcken in unserer Gemeinde. An manchem Abendmahlssonntag duftet es in der Kapelle nach frisch gebackenem Brot – vom eigenen Feld“, beschreibt Pfarrer Thomas Jeutner. „Die Gewalt an der Grenze zerstörte viele Leben. Da hat das biblische Vaterunser einen besonderen Klang. Da heißt es in der vierten und fünften Bitte: Unser tägliches Brot gib uns heute. Und vergib uns unsere Schuld.“ So bilden das Roggenfeld und die Kapelle eine biblische Einheit mitten auf dem einstigen Todesstreifen.