„Unrecht geschieht neben uns“

Die Darsteller schlüpften in viele Rollen: Hier als rote Teufel, die beispielsweise ausländische Unternehmer symbolisieren, die die Träume der Philippinos zerstörten. Foto: Andrea von Fournier

Philippinische Jugendliche waren in der St. Marien-Schule in Berlin-Neukölln zu Gast. Dort berührten sie die Zuschauer mit einem Theaterstück, das von ihrem Leben handelt. Andrea von Fournier schildert ihre Eindrücke.

Zu einem bestürzenden, aufrüttelnden Theaterabend lud die katholische St. Marien-Schule in Berlin-Neukölln kürzlich ein: In Zusammenarbeit mit Misereor und dem „Preda Freundeskreis“ kamen 18- bis 20-jährige philippinische Jugendliche auf ihrer Deutschland-Reise zu den Berlinern, um ein selbst verfasstes Theaterstück aufzuführen. Es geht darin um Erlebnisse der Heranwachsenden, die für uns unvorstellbar sind und für die Philippinos traumatisch waren.

Jede Darstellung ein Schicksalsschlag

Es sind „Geschichten“, die wir sonst im Fernsehen und in der Zeitung „konsumieren“. Doch plötzlich sehen wir sie auf der Bühne: Die hässliche Fratze des Kapitalismus, Ausbeutung, Kinderarbeit, Umweltzerstörung, Diebstahl, Mord, moderner Sklavenhandel, Missbrauch und Prostitution selbst der Jüngsten auf den Philippinen werden von Betroffenen gezeigt. Nicht jeder der sechs Jugendlichen, die in der Marien-Schule auf der Bühne stehen, hat alles so erlebt, wie im Plot dargestellt. Sie haben Erlebnisse und Erinnerungen von Altersgenossen zusammengetragen und verwoben.

Wortgewaltig – auf Deutsch –, laut und mit viel Körpereinsatz agierten die Jugendlichen. Am Vormittag haben sie das Stück bereits vor 150 Schülern verschiedener Jahrgangsstufen aufgeführt. Auch abends waren neben Erwachsenen Schüler unter den Zuschauern: Die Zwölftklässler Dennis und Luca brachten außerdem drei ehemalige Schulkameraden mit. Was die Gleichaltrigen aus dem asiatischen Inselstaat erlebt haben, interessierte sie.

Die Laiendarsteller, drei junge Frauen und drei Männer, leben oder lebten in Heimen der Organisation Preda. Die NGO (Non-governmental organization – Nichtregierungsorganisation), die sich auf den Philippinen um Kinder und Jugendliche kümmert, die seelische oder körperliche Gewalt erfahren haben, oftmals sexuell missbraucht wurden.

Sie können mithilfe internationaler Spenden, so durch Misereor, aus den Familien genommen, neu untergebracht und psychologisch betreut werden. Im Jungen- und Mädchen-Heim von Preda versucht man, sie zu stabilisieren, ihnen ihre Rechte zu erklären, eine Stimme zu geben und die Täter vor Gericht zu bringen. Schul- oder weiterführende Ausbildung werden für die Heranwachsenden finanziert, damit sie entweder in ein eigenes Leben starten oder gestärkt in ihre Familien zurückkehren können. Auch der Theaterkreis ist ein Preda-Angebot, um traumatische Erlebnisse der jungen Leute zu verarbeiten.

Deutsche Firmen verstärken Elend

Wie sehr Deutschland und die Philippinen verbunden sind, erfuhren die Zuschauer auf erdrückende Art: Deutsche Unternehmer, hier in Gestalt des sehr unangenehmen Herrn Henkel, beuten im Inselstaat Bodenschätze aus – ohne Rücksicht auf Verluste bei Mensch und Natur. In der Geschichte bricht dadurch ein Staudamm, eine Ortschaft wird überflutet. Die Häuser und Ernten der kleinen Farmer sind verloren. Große Fotos an der Bühnenwand illustrieren das Geschehene.

Finanzhaie sitzen vielen Bauern im Nacken, ebenso der Mutter von Celina, der als Witwe der Ernährer fehlt. Herr Henkel bietet freundlich an, der minderjährigen Celina Pass und Job in Deutschland zu vermitteln, damit sie die Mutter unterstützen kann. Gegen der Rat ihres Freundes Alex macht sich Celina auf den Weg. Sie ist zunächst geblendet von Schmuck, Geld, Alkohol und der schillernden neuen Welt. Doch dann folgt die Prostitution, sie wird geschlagen, mit anderen Kindern und Jugendlichen wie im Gefängnis gehalten. Dieses Theaterstück geht gut aus: Die Bösen werden von der Polizei gefasst, Celina kehrt zu Alex und ihrer Mutter in die Heimat zurück. In der Realität ist das nicht immer so. Korrupte Behörden und Polizisten vereiteln es.

Die Zuschauer im Saal der Marien- Schule applaudierten zum Schluss ausdauernd. Und das, obwohl die Vorstellung, dass direkt „nebenan“ Kinder und Jugendliche zur Prostitution gezwungen werden, wie ein schweres Gewicht auf den Zuschauern lag.

Nach der Vorstellung beantworteten die Darsteller gemeinsam mit Dina Gehr Martinez, Missbrauchsbeauftragte des Erzbistums Berlin, und einer Mitarbeiterin vom Verein Wildwasser, die Erfahrungen aus einer WG für misshandelte oder missbrauchte Berliner Mädchen mitbrachte, Fragen der Anwesenden. Die Zuschauer wollten unter anderem wissen, was das Wichtigste sei, was Preda den Jugendlichen biete. Ob die Misshandelten auch betreut würden, wenn sie volljährig wären? Ob die NGO etwas gegen die Täter ausrichten und am strukturellen Problem in dem Land ändern könne?

Geduldig antworteten die Angefragten: Auch wenn Preda mit Unterstützung von Misereor vieles leiste, seien die Philippinen kein „Paradies“, wie es sich alle Schauspieler in der Kindheit erträumten. Doch heute seien sie glücklich: Ihnen allen ist mit Predas Hilfe der Ausweg aus einer schlechten Kindheit und Jugend gelungen. Sie haben ihre Stimme (wieder-)gefunden und alle haben Schul- oder Uniabschlüsse. Die Darstellerin der Celina hat beispielsweise den Bachelor für Tourismusmanagement. Auch nach diesen mutmachenden Auskünften applaudierten die Zuschauer.