Seit 60 Jahren wird in der Kirche Maria Regina Martyrum an die Opfer des christlichen Widerstands gegen die Nationalsozialisten erinnert. Die hier lebenden Karmelitinnen wünschen sich dafür mehr bundesweite Beachtung.
Der Festgottesdienst ist längst vorbei. Eine freundliche ältere Dame aber bleibt länger in der Kirchenbank sitzen. Sie heißt Hildegard. Sie stammt aus dem Rheinland, wohnt aber schon lange mit ihrer Familie in Berlin. Wieso geht sie nicht wie die anderen nach unten zum Fest-Empfang? Sie bleibt ganz ruhig sitzen und sagt: „Ich habe, ich weiß nicht mehr wie, diese Kirche durch Zufall entdeckt und war das erste Mal positiv, aber auch erschrocken, angetan von dem Altarbild. Als ich die großen schwarzen Felder sah, da kann ich rein gehen, da wird meine Geschichte mit Krieg und Nazis bewusst“, sagt sie.
Sie blickt auf das Farbenmeer vor ihr. Es ist riesig, ein Monumentalbild, das nahezu die gesamte Stirnseite der rechteckigen Oberkirche einnimmt. Aus der Nachfrage macht Hildegard eine ganze Bildmeditation: „Ich hab damals nur die schwarzen Felder gesehen und dass das in der Kirche so sein darf, das ist gut. Ich habe gar nicht die Mitte gesehen. Dieses kleine Lamm. So viel Verletzliches, nicht „Großer Gott, wir loben dich“, sondern ganz zurückgenommen, dieses Lamm, das hochgeht zu dem grünen Auge Gottes. Also, ich könnte jetzt stundenlang reden, weil ich oft in diese Kirche gehe. Ich bin wochenlang hierhin gegangen, um an das Schlimme zu denken, was gewesen ist. Das hat mir irgendwie einen Halt gegeben.“
Verlässlicher Rückzugsund Erinnerungsort
Die Gedenkkirche Maria Regina Martyrum im Berliner Nordwesten ist den Menschen seit 60 Jahren ein verlässlicher Rückzugs- und Erinnerungsort. Sie wurde bewusst unweit der Hinrichtungsstätte Plötzensee errichtet. Bis heute lebt man mit dem evangelischen Gemeindezentrum dort, ebenfalls eine Gedenkkirche, in guter ökumenischer Nachbarschaft und Gemeinschaft. Nach dem Krieg war das Bedürfnis groß, der Opfer des christlichen Widerstandes im Nationalsozialismus zu gedenken.
Bis heute wird in der Gedenkkirche von den „Blutzeugen“ gesprochen. Unter dem Altar liegen die Gebeine des widerständigen Dompropstes Bernhard Lichtenberg. In der Krypta der Unterkirche befindet sich die Urne von Erich Klausner, dem Leiter der Berliner Katholischen Aktion, der 1934 von den Nazis ermordet wurde. Auf einer Erinnerungsplatte wird an den Jesuiten Pater Alfred Delp und den mit ihm befreundeten Helmuth James Graf von Moltke gedacht, den Mitbegründer des Kreisauer Kreises. Der protestantische Adelige traf sich auf seinem schlesischen Gut auch mit zahlreichen befreundeten Katholiken. Zusammen planten sie im Geheimen eine neue deutsche Gesellschaftsordnung nach dem Naziregime.
Im Festgottesdienst zum 60. Weihejubiläum der Gedenkkirche zitierte der Hildesheimer Bischof Heiner Wilmer, der auch Vorsitzender der bischöflichen Kommission Justitia et Pax ist, eben diesen Helmuth James Graf von Moltke, der am 23. Januar 1945 in Plötzensee hingerichtet wurde: „Ich werde verurteilt, nicht, weil ich ein Protestant bin, nicht, weil ich ein Großgrundbesitzer bin, nicht, weil ich adelig bin, nicht, weil ich Preuße bin, nicht, weil ich ein Deutscher bin, sondern ich werde verurteilt, weil ich Christ bin. Ich bin bestimmt im Widerstand, um die Ökumene hochzuhalten. Im Widerstand habe ich erkannt, dass wir als Christen nur dann Zeugnis geben können, wenn wir zusammenhalten.“ Es war die Vision eines ökumenischen Miteinanders, wie sie heute in der Gedenkkirche gelebt wird.
Vom Ort des Grauens zu einer Art Heimat
Sein Sohn Helmut Caspar Graf von Moltke sprach im Festgottesdienst: „Für uns war Plötzensee nach dem Tod meines Vaters ein Ort des Grauens. Wir wollten nicht hierherkommen. Ich weiß, als ich das erste Mal in Plötzensee war, das ist nun 70 Jahre her, war es ein Besuch, den ich im Grunde nicht wiederholen wollte. Sie haben jetzt hier etwas geschaffen, was für uns aus den Familien, deren Angehörigen hier gestorben sind, von großer Bedeutung ist. Das ist ein Ort, den wir gerne besuchen, der in gewisser Weise eine Heimat für uns ist und der eine Rolle in unserem Leben spielt.“
Die Gedenkkirche Maria Regina Martyrum und der Karmel Regina Martyrum – beides sind heute Orte, die leben. Die Kirche ist neben den Gottesdiensten täglich geöffnet. Hier gibt es die Möglichkeit, im Haus der Stille einzukehren oder Ruhe und Besinnung im „Kloster auf Zeit“ zu finden. Der Klosterladen der Unbeschuhten Karmelitinnen bietet Literatur und Devotionalien zum Mitnehmen und die derzeit neun Karmelitinnen des Konvents stehen für Gespräche und Seelsorge zur Verfügung. Vor 40 Jahren sind sie auf Bitten des Berliner Bischofs Kardinal Alfred Bengsch von Dachau hierhergezogen. Schwester Petra war von Anfang an dabei. Sie beschreibt ihr Klosterleben so: „Wir haben uns in die Gedenkkirche gerufen gefühlt. Wir haben in der Krypta unsere öffentlichen Stundengebete. Viel mit Gesang, da kommen Menschen dazu. Das ist etwas, was zu unserem Dienst gehört. Das öffentliche Gebet und die Einladung an alle, die teilnehmen mögen. Ein Schwerpunkt ist bei uns das Gebet um Versöhnung und Frieden.“
Wieder verstärkt für den Frieden beten
Schwester Teresia Benedicta ist seit 23 Jahren hier. Ob ihr Karmel und die Gedenkkirche auch die nächsten 60 Jahre noch hier sein werden, kann und will sie nicht weissagen. Das möchte sie lieber den Ratschlüssen des Herrn überlassen, lacht sie. Ihren aktuellen Dienst beschreibt sie so: „Wach sein, sensibel sein für das, was heute in unseren Tagen an Unrecht geschieht. Da ist der Krieg gegen die Ukraine. Da haben wir verstärkt für den Frieden gebetet. Die Menschen im Widerstand, deren wir hier gedenken, hatten damals Visionen – beispielsweise von einem geeinten Europa. An diesen Visionen, die heute wieder total aktuell sind, weiterzuarbeiten, ist wichtig.“
Maria Regina Martyrum liegt nicht in der Berliner Innenstadt. Man muss schon wissen, dass man hierher kommen will. Es ist ein ganzer Komplex: Die wie schwebend wirkende Betonoberkirche. Der betonummauerte Innenhof, der wie ein riesiger Appellplatz wirkt. Der markante freistehende Beton-Glockenturm. Architekten sprechen bei dem Baudenkmal von einem Brutalismus-Ensemble.
Es wurde mit dem Anspruch erbaut, die nationale Gedenkkirche für alle deutschen Katholiken zu sein. Schwester Teresia Benedicta hofft daher in Zukunft auf mehr bundesweite Beachtung der Berliner Kirche: „Es gab die beiden Katholikentage 1952 und 1958, wo eben die Katholiken Deutschlands sich für den Bau dieser Kirche eingesetzt haben, sich gewünscht haben, dass es diesen Ort des Gebets gibt. Und jetzt fängt das Zentralkomitee der Deutschen Katholiken wieder an, uns mehr wahrzunehmen, um sich dieser Verantwortung wieder neu zu stellen.“ Die Gedenkkirche Maria Regina Martyrum, ein Kraftort, ein Entdeckungsort. Wenn man kommt, sitzt mit ein bisschen Glück wieder Hildegard in der Kirchenbank und man kann sich gemeinsam in das riesige Altarwandgemälde hinein vertiefen, vielleicht sogar über die Dinge der Zeit und die eigenen Sorgen sprechen.