„Wir sehen den Menschen“Mit „Café Rückenwind“ nimmt der Pastorale Raum Reinickendorf-Süd die JVA-Tegel in den Blick

Unvoreingenommene Begegnung bei Kaffee und Kuchen im Café Rückenwind. Foto: Herrmann

Pfarrvikar Stefan Friedrichowicz (l.) brachte die Idee im Pastoralen Raum ein. Foto: Herrmann

Jeden zweiten Donnerstag im Monat öffnet in St. Rita das Café Rückenwind. Foto: Herrmann

Schnell noch entzündet Regina Beuster die Kerzen, während Angelika Bronder-Doerck und Ursula Kloss Thermoskannen mit frisch gekochtem Kaffee auf den festlich gedeckten Tisch stellen. Während der letzten Vorbereitungen unterhalten sich bereits die ersten Gäste angeregt am Tisch.

Jeden zweiten Donnerstag im Monat öffnet das „Café Rückenwind“ seine Pforten. Von 17 bis 19 Uhr begegnen sich im Augustinus-Raum von St. Rita in Berlin-Reinickendorf Freigänger sowie ehemalige Inhaftierte der Justizvollzugsanstalt Tegel mit Ehrenamtlichen aus dem Pastoralen Raum Reinickendorf-Süd. 16 Männer und Frauen sind an diesem Donnerstagnachmittag im Advent gekommen.

„Macht hoch die Tür, die Tor macht weit“, stimmt Pfarrvikar Stefan Friedrichowicz an und alle singen mit. Nun setzt der Gefängnisseelsorger der JVA-Tegel das Thema des Nachmittags: Verzeihen. Der gewaltsame Tod einer 73-Jährigen, die von einem ihrer Söhne erstochen wurde, steht plötzlich im Raum. „Wie geht man mit so einer tragischen Tat um?“ „Wie kann man als Familie weiter zusammenleben?“ „Kann man das verzeihen?“, fragen sich die Anwesenden. „Verzeihen, ja das geht, aber die Folgen bleiben, der Mensch ist und bleibt tot, damit muss die Familie leben“, zeigt Friedrichowicz auf die klaffende Wunde, die die Angehörigen und den Täter belasten: „Auch wenn man im Gefängnis sitzt, man kann die Tat nicht mehr ungeschehen machen.“ „Als Täter verdrängst du erstmal sehr schnell. Das geht schon in der U-Haft los“, weiß Bernd, wie ein Täter zunächst versucht, die Tat in seinem Innern ungeschehen zu machen. „Als Tatleugner kommst du allerdings nicht weiter“, betont Matthias, dass das eine Sackgasse darstellt. Es sei wichtig, einzusehen, dass man die Strafe verdient habe. „Dann, wenn du wieder draußen bist, geht es um Vergebung.“

Ehrenamtliche aus dem gesamten Pastoralen Raum

Pfarrvikar Friedrichowicz brachte die Idee zum Café in den Pastoralen Raum. Der Gefängnispfarrer erkannte, dass es in Berlin an Orten fehlt, an denen sich Haftentlassene oder Häftlinge im Freigang wieder an die Gesellschaft annähern können, Orte, an denen sie auf Menschen treffen, mit denen sie sich normal unterhalten können, ohne wegen ihrer Vergangenheit ausgegrenzt zu werden, auf Menschen, die ihnen auch mal hilfreich zur Seite stehen. „Wir haben die große Haftanstalt Tegel in unserem Pastoralen Raum, keine anderthalb Kilometer von St. Rita, ist das nicht eine Anfrage an uns?“ Friedrichowicz ließ in allen Gottesdiensten im Pastoralen Raum die Idee für ein Haftcafé verkünden. Aus allen Gemeinden meldeten sich recht schnell interessierte Ehrenamtliche. Eine Arbeitsgruppe bereitete dann das Projekt vor, das im Juni gestartet ist.

„Bei allem, was nach Café klingt, bin ich dabei“, meint Bronder-Doerck lachend. Die gelernte Serviererin kommt aus St. Rita und möchte durch das Projekt Mitglieder der anderen Pfarreien kennenlernen. „Inhaftierte sind auch Menschen, das wird in unserer Gesellschaft häufig übersehen“, engagiert sich Linda aus Tegel in der Gruppe, um der Stigmatisierung von Häftlingen entgegenzutreten. „Hier findet diese Humanisierung statt“, weiß sie. Bernd sitzt zum dritten Mal in der Runde. „Die Leute hier sind freundlich und unvoreingenommen“, freut er sich über das Angebot der katholischen Kirche. Bernd hat 16 Jahre Knast auf dem Buckel und hat bereits seinen Neuanfang in Freiheit im Blick. „Für mich geht es darum, soziale Kontakte zu knüpfen und eine christliche Gemeinde zu finden, um mein Leben draußen in den Griff zu bekommen.“ Menschen zu treffen, die im Leben stehen, die ihnen die Angst vor der Welt nehmen, in die sie nach langen Jahren im Gefängnis wieder hineinfinden müssen, darauf hoffen die Freigänger, die auch schon mal in Begleitung durch Mitarbeiter der JVA ins Café kommen.

Menschliche Begegnung

Vor kurzem habe sie sich für einen Cafébesucher nach einer Wohnung umgehört, erzählt Gabriele Sonntag von einer besonderen Erfahrung. „Als ich der Vermieterin sagte, dass ich für einen Haftentlassenen suche, hat sie sogleich Abstand genommen.“ Voreingenommenheit und Hemmungen spüre sie, wenn sie mit anderen über ihren Einsatz für das „Café Rückenwind“ spricht. „Davon ist man selbst nicht frei“, bekennt die Katholikin aus St. Marien Reinickendorf. Sie sieht ihr Engagement daher als Herausforderung für ihr Christsein. Als Christ sei man doch gerade in der Pflicht, meint sie, Nächstenliebe zu praktizieren, das mache doch Kirche aus. „Wenn wir als Christen schon anfangen und sagen: mit denen setzen wir uns nicht an einen Tisch, wo soll das hinführen?“

Weder werde nach der Tat gefragt, noch nach der Haftdauer, erklärt Sonntag die Spielregeln und betont: „Wir sehen den Menschen.“ Für die Ehrenamtlichen gebe es die Anweisung, keine persönlichen Adressen und Telefonnummern auszutauschen. Auch sei ein Kurs zum Verhalten gegenüber Straftätern angeboten worden. „Mitleid habe ich nicht. Ich bin nicht der Richter. Man muss akzeptieren, dass sie lange Strafen absitzen“, betont Sonntag, „dennoch kann man ihnen menschlich begegnen.“

Ein Stück gelebte Bibel

„Für mich ist das hier ein Stück gelebte Bibel“, zeigt sich Pfarrvikar Friedrichowicz begeistert, wie das Projekt im Pastoralen Raum aufgegriffen wurde und erinnert an das Matthäusevangelium: „Was ihr für einen dieser Geringsten nicht getan habt, das habt ihr auch mir nicht getan.“ (Mt 25,45). Die Arbeit mit Strafgefangenen und Haftentlassenen sei im Erzbistum Berlin bislang noch unterentwickelt, konstatiert der Gefängnisseelsorger. Umso mehr freut er sich, dass der Start in Reinickendorf-Süd geglückt ist. „Es ist ein offenes Angebot, von dem sich schnell viele im Pastoralen Raum angesprochen gefühlt haben. Damit ist das Thema kein Tabu mehr, sondern zum Thema von ganz Reinickendorf-Süd geworden.“

Geht es nach Friedrichowicz, soll sich das Projekt mit der Zeit weiterentwickeln. Im März ist geplant, mit Hilfe des Sozialdienstes katholischer Männer (SKM) einen eigenen Verein „Café Rückenwind“ zu gründen. Die Frage: „Wie geht das Leben nach der Entlassung weiter?“ stelle sich in den verschiedensten Facetten, meint der Pfarrer der JVA. So würden zum Beispiel dringend Wohnräume für das erste halbe Jahr nach der Entlassung benötigt, um ehemaligen Häftlingen einen stabilen Neustart zu ermöglichen. Friedrichowicz: „Das Projekt birgt Chancen für den gesamten Pastoralen Raum.“