Berlin (KNA) Der rote Fleck auf dem Aquarell ist Marianne Dörings Herz. Genauer gesagt eine warme Herzhöhle, die nur selten jemand betreten darf, so erklärt die 72-Jährige ihr Bild. Mit sechs war ihr Leben noch in Ordnung. Dann starb die Mutter, der Vater kam traumatisiert aus dem Krieg, die große Schwester prügelte sie beinah zu Tode, der Schwager missbrauchte sie sexuell. Sie kam in ein Heim, doch es wurde nicht besser.
Nach acht Suizidversuchen bis zu ihrem 22. Geburtstag und ungezählten Jahren des Schweigens geht Marianne Doering zusammen mit sieben anderen ehemaligen Heimkindern nun in Berlin an die Öffentlichkeit. In einem bundesweit einmaligen Projekt stellen sie Zeichnungen aus, die ihre Erlebnisse und Befindlichkeiten widerspiegeln.
Was jetzt an den Wänden der Galerie F92 im Stadtteilhaus Prenzlauer Berg zu sehen ist, sind Einblicke in die Kinderseelen der acht Frauen. Ihre Biographien ähneln sich: viel Gewalt, wenig Selbstwertgefühl. Bis zur Ausstellungseröffnung am Montag brauchte es sechs Monate, viel Unterstützung der Kunstpädagogin Annette von Richthofen - und jede Menge Überwindung. Denn diese Frauen - und es hätten auch Männer teilnehmen können - stehen stellvertretend für Hunderttausende, die zwischen Zweitem Weltkrieg und Mauerfall in einem Heim ihre Kindheit verloren. Über ihr Schicksal schwieg die traumatisierte Nachkriegsgeneration wie über vieles andere auch.
Schätzungen zufolge gab es zwischen 1949 und 1990 rund 400.000 Heimkinder in der DDR; in der Bundesrepublik Deutschland sollen es von 1949 bis 1975 etwa 800.000 gewesen sein. Zur Entschädigung wurde 2012 für sie in Ost- und Westdeutschland jeweils ein Hilfsfonds eingerichtet. Noch bis 30. September 2014 kann jeder Betroffene einen Antrag auf Sachhilfen im Wert von bis zu 10.000 Euro stellen sowie auf Rentenersatzleistungen, wenn er oder sie als Kind oder Jugendlicher in einem Heim arbeiten musste.
Das Geld war schneller aufgebraucht als gedacht, weil Bund und Länder nicht mit einem so großen Andrang gerechnet hatten. Im Februar beschlossen sie eine Aufstockung des Heimkinderfonds-Ost von 40 Millionen Euro auf rund 200 Millionen Euro. Die bislang einzige Anlauf- und Beratungsstelle für ehemalige Heimkinder in Berlin zählte seit 2012 über 3.300 Anträge von Betroffenen, von denen immer noch 1.900 auf einen Termin zum Beratungsgespräch warten. Deshalb wurde zeitgleich mit der Ausstellung der Betroffenen-Zeichnungen in dem Stadtteilzentrum am Teutoburger Platz auch eine zweite Berliner Anlauf- und Beratungsstelle eröffnet.
Marianne Döring und den anderen Frauen geht es jedoch vor allem um gesellschaftliche Anerkennung, weniger um finanzielle Entschädigung. "Wir wollten mit dem Projekt in unserem Inneren das finden, was noch heil geblieben ist", erklärt sie. Die Frauen wollen das Stigma loswerden: Heimkind, schwer erziehbar, selbst schuld. Deshalb haben sie ihre Vergangenheit noch einmal aufgewühlt, den Garten in ihrem Herzen geordnet.
Die Ausstellung "Der Garten in meinem Herzen" ist bis zum 10. Mai donnerstags, freitags und samstags von 15 bis 17 Uhr zu besichtigen.
Stadtteilzentrum am Teutoburger Platz
Fehrbelliner Str. 92, 10119 Berlin
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