Herausgerissen - aufgenommen - angekommen

Eine Ukrainerin erzählt

Seit dem 06. März 2022, seit 10 Monaten, seit über 300 Tagen leben in Räumen der Katholischen Kirchengemeinde in Michendorf acht Menschen - fünf Frauen, ein Mädchen und zwei Jugendliche - aus der Ukraine. Sie leben im Souterrain, in Räumen, die eigentlich als Gruppenräume dienen, für die Seniorenarbeit, die Jugendarbeit, Pfadfinder ... Nie war daran gedacht, dass hier dauerhaft Menschen leben könnten. Doch als Russland die Ukraine angriff, überlegte die Katholische Kirchengemeinde wie so viele andere auch, wie Hilfe aussehen könnte und stellte die Räume als Zuflucht zur Verfügung. Inzwischen ist viel Zeit ins Land gegangen, die Ausnahmesituation der Flucht, so scheint es, ist zur Normalität geworden. Stimmt das tatsächlich? Das wollten wir von einer der neuen Mitbürger*innen wissen und baten sie, uns ihre Geschichte zu erzählen.

Mein Name ist Yaroslava, ich bin 41 Jahre alt, verheiratet und habe zwei Kinder, eine Mutter und eine Schwiegermutter. Wir kommen aus der Ukraine, aus der Stadt Kiew. Das ist die schönste Stadt der Welt! Kastanien blühen auf allen Straßen unserer Stadt ... Kastanien blühten und Kinder lächelten ... Wir hatten ein wunderbares Leben! Mein Mann Andriy (41 J.) arbeitet als Ingenieur für Sicherheits- und Videoüberwachungssysteme. Ich habe als Immobilienmaklerin gearbeitet. Mit meiner Arbeit konnte ich viele Menschen ein wenig glücklicher machen. Wenn sie die Schlüssel für ihre eigenen vier Wände erhalten haben, dann habe ich lächelnde Gesichter gesehen.Mein Sohn Vlad (17 Jahre alt) beendete gerade die Schule und plante, sich an der Nationalen Technischen Universität der Ukraine zu bewerben ... Er praktizierte mit großer Begeisterung und sehr erfolgreich Kudo (eine moderne Vollkontakt-Kampfkunst), bereitete sich auf die Weltmeisterschaft vor ...  Meine Tochter Miroslava (sie ist nun schon 9 Jahre alt, ihren Geburtstag haben wir vor kurzem in Michendorf gefeiert, ganz weit weg vom Papa), sie hat die 2. Klasse besucht. In ihrer Freizeit trainierte sie intensiv Rhythmische Sportgymnastik, bereitete sich auf Auftritte vor. Unsere Großmütter Maria und Lidia (beide 72 Jahre alt) lebten ein glückliches Leben in ihren kleinen Wohnungen. Sie warteten darauf, dass der Frühling wieder ins Land zieht, kümmerten sich um Garten und Wohnung, freuten sich auf den Besuch der Enkelkinder zu den Feiertagen.

Am 24. Februar 2022 veränderte sich unser Leben für immer, wir hielten in Erwartung des schnellen Sieges inne ... Dieser Horror, den wir Ukrainer erleben, ich kann den Angreifern nur wünschen, dass sie den Schmerz spüren, den wir jede Minute empfinden ...
Kiev wurde zu Beginn des Krieges heftig bombardiert. Wir haben als ganze Familie alle zusammen eine Woche in einer Tiefgarage gelebt, auf dem Betonboden auf Luftmatratzen geschlafen ... es war sehr gruselig und kalt ... Wir haben den 17. Geburtstag unseres Sohnes dort in der Tiefgarage gefeiert, diesen Geburtstag werden wir nie vergessen ...
Als es wirklich schlimm wurde, haben wir begriffen, dass dieser Horror gerade erst begonnen hat. Da entschied mein Mann, dass es zwingend sei, uns außer Landes zu bringen, damit ich nicht den Verstand verliere und die Kinder wenigstens ab und an wieder lächeln können. Also verließen wir Kiev und machten uns auf den Weg. Wir dachten, wir gehen für zwei Wochen nach Deutschland. Wir waren uns sicher, dass sich in dieser Zeit alles klären würde und es wieder Frieden geben würde. Dann würden wir in unser Leben, in unsere Träume und Zukunftspläne zurückkehren, aber ...
Als wir in Michendorf eintrafen, wurden wir von unseren Engeln empfangen, ich kann diese Menschen nicht anders nennen. Menschen, die uns liebevoll aufgenommen haben, die gemeinsam mit mir und meiner Familie Freude und Trauer miterleben im Angesicht der Geschehnisse in der Ukraine, Menschen, die das Leben meiner Kinder glücklicher machen.
Mein Mann blieb in der Ukraine. In den ersten Kriegsmonaten gingen er und andere Männer als Freiwillige nach Bucha, lrpin, Borodyanka, Tschernihiw ... die Schrecken, die sie dort sahen - es ist unmöglich zu erzählen, es ist unvorstellbar, es ist unmenschlich ... Jetzt arbeitet mein Mann wieder in seinem Job und vermisst uns, weil wir nie so lange getrennt und so weit voneinander entfernt waren.
Wir hier in Michendorf, wir haben ein anderes Leben, wie eine Parallelwelt... Stille, wir müssen keine Angst haben um unser Leben - und doch ist da große Angst - Angst, dass ich meinen Mann nicht wiedersehe, dass ich nie wieder nach Hause komme, Angst, dass es nie wieder so wird, wie es war, unser Leben zu Hause ...
Jetzt versuchen wir alle, die neue Sprache zu lernen. Meine Tochter geht in Wilhelmshorst zur Schule, im Sommer konnte sie wieder anfangen ihren Lieblingssport auszuüben – Rhythmische Sportgymnastik beim Sportverein Dallgow 47 e.V.; regelmäßig fahren wir zum Training dorthin. Beim großen Michendorfer Martinszug las sie die Geschichte auf Ukrainisch vor, sie fährt mit dem Fahrrad durch ihr neues Zuhause, malt und bastelt gerne, lächelt manchmal.

Im Frühjahr besuchte mein Sohn das Gymnasium in Michendorf, gleichzeitig bereitete er sich auf den Schulabschluss in seiner Heimat vor. Nach dem erfolgreich bestandenen ukrainischen Abitur lernt er jetzt Deutsch im Integrationskurs. Er begann Fußball zu spielen; ich bin den Trainern der SG MICHENDORF sehr dankbar für ihre Unterstützung und die Möglichkeit, dass er ohne Vorkenntnisse in diesem Sport mit trainieren darf. Nach und nach fängt mein Sohn an, seine Zukunft neu zu planen, er will in Potsdam weiterstudieren. Auch unsere beiden Großmütter lernen die Sprache bei der wunderbaren Lehrerin Edith. Ich selbst besuche den Integrationskurs, habe die B 1-Prüfung bereits absolviert und studiere jetzt das politische und gesellschaftliche Leben Deutschlands.

Es gibt Menschen in Michendorf, die zu meiner Familie geworden sind, ohne sie kann ich mir nicht vorstellen, was ich in einem fremden Land machen würde, ohne die Sprache zu können ... DANKE ...
Wir haben ein Dach über dem Kopf, wir haben Essen, wir haben die Möglichkeit zu lernen! Aber es gibt auch Schwierigkeiten. Wir leben alle zusammen in einem kleinen Zimmer: mein Sohn, meine Tochter, meine Mutter, meine Schwiegermutter und ich. Missverstehen Sie mich nicht, ich bereue nichts. Es ist nur so, dass wir vorher alle getrennt in jeweils eigenen Wohnungen gelebt und uns eben nur ab und zu besucht haben. Nun sind wir Tag und Nacht zusammen in einem Raum - wir lieben uns, aber wir sind ein bisschen müde voneinander. (Besonders schwierig ist es für die Kinder, sie sind daran gewöhnt, dass jeder sein eigenes Zimmer und seinen eigenen Lebensbereich hat.)

Unser größter Wunsch ist daher, Wohnraum hier in der Gemeinde Michendorf zu finden: Vielleicht kleine Ein-Raum-Wohnungen für die beiden Großmütter und eine kleine Wohnung für die Kinder und mich. Da wir uns hier inzwischen gut auskennen, meine Tochter hier zur Schule geht, möchten wir natürlich gerne in der Nähe bleiben und nicht in eine andere Gegend ziehen. Meine Tochter hat es in der Schule schwer, denn sie beherrscht die Sprache noch nicht gut. Schon die fremde Schrift ist für eine Drittklässerlerin eine große Herausforderung. Sie lernt fleißig, aber oft verstehen wir die Anforderungen der Lehrer nicht. Natürlich sind unsere Kinder eine Belastung für die Schulen, sie brauchen mehr Erklärungen, mehr Zeit, mehr alles ... aber wir haben uns ein solches Schicksal auch nicht ausgesucht und wir wollen wirklich Frieden.
Für meine Mütter ist es eine große Herausforderung, sich an eine andere Kultur, eine andere Sprache, ein anderes Leben zu gewöhnen ...

Das Schwierigste aber ist es, ohne Ehemann zu leben. Die Kinder leben ohne Vater ... und leider können wir Papa nicht einmal für ein paar Tage, Stunden besuchen, nur um ihn zu umarmen, weil es sehr beängstigend und zu gefährlich ist... Ich bin Michendorf und allen Michendorfern sehr dankbar für Ihre Sorge, für Ihre Aufrichtigkeit, für Ihre Freundlichkeit, für Ihre Unterstützung, dafür, dass Sie Ihre wunderbare Gemeinde mit uns teilen! Ich mag Michendorf sehr, es ist komfortabel, gemütlich und es blühen sogar Kastanien!

Yaroslava

Tatsächlich, so können wir also festhalten, sind unsere Gäste gut angekommen in Michendorf, sind aktive Mitbürger*innen, nehmen am sozialen Leben teil, gestalten ihren Alltag, obwohl die Zukunft weiter so sehr im Ungewissen liegt. Und doch gibt es - bei aller Sicherheit und bei aller guten Orientierung hier im Raum Potsdam-Mittelmark - die eine große Baustelle im Leben der Familien, wie Yaroslava es auch deutlich werden lässt. Die Räume der Kirchengemeinde waren nie und sind natürlich nicht echte Wohnräume mit privaten Rückzugsmöglichkeiten, mit ausreichendem Platz, mit eigener Küche oder privatem Badezimmer. Die Familien sind stark gefordert, sich untereinander und mit dem Leben der Kirchengemeinde zu arrangieren, hier Wege und Räume für sich zu finden. Gerade für die Kinder manchmal eine schwierige herausfordernde Situation. Daher suchen wir dringend angemessenen Wohnraum, abgeschlossene Miet-Wohnungen für die einzelnen Familien. Unsere Suche umfasst Einzimmer-Appartments bis hin zu einer Wohnung für drei Personen zur Miete. Und so wenden wir uns an die große Gemeinschaft der Gemeinde Michendorf: Vielleicht kennt jemand jemanden, der jemanden kennt, der eine Mietwohnung anbieten kann.

lmina Schopper, Katholische Gemeinde Michendorf