Leichtes Gepäck - Pilgern auf Rügen 2019

Foto: Gabriele Kraatz

‚Eines Tages fällt Dir auf, dass Du 99 % nicht brauchst. Du nimmst all den Ballast und schmeißt ihn weg, denn es reist sich besser mit leichtem Gepäck.’ (Silbermond)

Ist Pilgern eigentlich Wandern? Lauft ihr mit Rucksack? Fängt Loslassen schon beim Ankommen an? Wie viel innerer Weg passt zwischen Sassnitz und Stralsund? Hat das was mit Gott zu tun? Wie echt sind wir zwischen außen und innen, zwischen Wahrnehmung und Wahrgebung? Bist Du sicher - mit ner kirchlichen Gruppe?

Am 21.09. 2019 brechen zwölf Menschen, die mitten im Leben stehen, von Berlin nach Rügen auf. In Sassnitz beginnt der Pilgerweg dieser Frauen und Männer mit ihren beiden SeelsorgerInnen, Frauenseelsorgerin und Polizeiseelsorger. Die erste Herberge ist das ehemalige E-Werk in Sassnitz. Dort werden wir herzlich empfangen und bestens versorgt. Das gegenseitige Beschnuppern und Austauschen fördert beim ersten Abendessen und im Stuhlkreis, später in der Runde beim Pilgerwein und dem Richten der Betten erste Gemeinsamkeiten und Individualitäten zu Tage. Zwischen Kreuzzeichen, Gymnastiktipps, „unserem Lied“ (Leichtes Gepäck von Silbermond), Schlafgewohnheitenabgleich und letzten Smsen nach Hause fühlen wir uns alle irgendwie ganz gut und aufgehoben. Noch sind wir gekleidet in unser Alltagsgewand aus nicht wenigen Rollen und vermeintlichen Sicherheiten – gut gerüstet in Funktionsklamotten. Mit dem Loslassen fangen wir gerade erst an. Gute Nacht in Mehrbettzimmern.

Den Sonnenschein am nächsten Morgen nehmen wir dankbar wahr, genauso wie das reichhaltige Frühstück. Los geht’s! Unsere SeelsorgerInnen bringen uns auf den Weg. Morgenritual vor der kleinen Kirche. Unerwartete Orgelmusik treibt einigen erste Tränen in die Augen. Wir beten, singen und brechen auf. Vor uns soll ein wunderschöner Tag auf dem Birgittenweg liegen. Blauer Himmel, fröhliches Schwatzen, die glitzernde Ostsee, Stein ablegen, der geistliche Impuls mit anschließendem Schweigen, Waldweg, Kaffee, Kuchen und Kutterstulle (Überraschung!), Rucksack justieren, Schuhe noch mal neu binden, Weg suchen, aufwärts, abwärts, wieder die Ostsee, Weg suchen. Die Insel macht es uns heute leicht hier anzukommen, hier Pilger und Pilgerin zu werden. Einige von uns tauchen noch in die See ein. 20 Kilometer liegen hinter uns, als wir unsere Herberge in Lietzow erreichen. Wir spüren unsere Beine und auch unser Inneres ist in Bewegung geraten. Abendessen. Im Abendritual werten wir gemeinsam den Tag aus. Es kommen wehe Füße genauso zur Sprache wie vorsichtige Aspekte spiritueller und emotionaler Berührung. Mit Ignatius von Loyola gelingt uns so die Vorbereitung auf die “unbeschriebene“ Ruhe der Nacht. Schlafen.

Am Montag laufen wir von Lietzow nach Bergen. Beim ersten Impuls dämmert uns bereits der Unterschied zwischen Wandern und Pilgern. Was macht mich echt? Wie werde ich wahrgenommen und was gebe ich wahr? Wahrgebung? Ein neuer Aspekt. Der Weg heute verlangt uns allen etwas ab. Wir gehen körperlich zum Teil an unsere Grenzen. Das Wetter spiegelt unsere innere Aufruhr, es ist windig und sonnig und bewölkt im Wechsel. Wald, Jacke an, Jacke aus, Wasser, Stöcke ja, Stöcke nein, singen, beten, Steinpilze, Impuls, schweigen, Mütze an, Halstuch aus, sich austauschen. Begegnung. Es gibt um die Mittagszeit ein Highlight an Wahrgebung. Unerwartet öffnet uns ein auf Rügen im Ruhestand lebendes Paar seine Türen und lädt uns zu Mandarinenbaisertorte und Quiche, zu Kaffee und Tee auf die Terrasse ein. Wir sind so glücklich! Und bewegt. So gestärkt laufen und laufen und laufen wir bis Bergen, wo wir durchgeschwitzt in die Pilgerherberge neben der Kirche einziehen – und uns auch des Namens langsam würdig fühlen. Neue Aspekte der Gruppendynamik sind hier gefordert, da wir uns zwei Bäder teilen und die Mahlzeiten selbst zubereiten werden. PolizistInnen, Männer, Frauen, PädagogInnen. Unsere spirituelle Seite wird hier während der Führung durch die Kirche angetippt. Beeindruckt lassen wir die Wandmalereien zu Paradies und Hölle auf uns wirken.
Das Abendritual lässt uns heute unsere Rollen reflektieren, was wir alles so wahrgeben – und lässt uns weiter loslassen. Als wir später im überheizten Gemeinschaftsraum die wehen Füße hochlegen stimmen wir alte Lieder an, Lieder aus unserer Vergangenheit, wir hören dabei Ost und West heraus, spüren Distanz und Zusammenrücken.

Mit einem Halleluja für den Zugführer geben wir auch unserer kurzen Etappe auf Schienen von Bergen nach Lauterbach am Dienstag, dem dritten Tag, den nötigen Pilgergeist. Von Lauterbach suchen wir unseren Weg nach Garz. Er führt uns über unbestellte Felder, an der Küste entlang, vorbei an Pferdekoppeln und verträumten Häusern, mitten durch einen Rosengarten. Gebete, Lieder und Impulse tragen uns und fordern uns. Manche räumt in Gedanken schon den Kleiderschrank aus - loslassen, mancher öffnet seinen Blick für die Schönheit der Natur – loslassen, manche geht ein paar Freundschaften und Familienmitglieder durch – loslassen? Wir arbeiten uns mit der Sonne durch die Wolken, durch den Nebel, wagen uns mit Silbermond heute an Narben und alte Rechnungen. Wo war Gott, als ich verwundet wurde? Wer versteht meine Narben, wer meine Trauer? Wir laufen und laufen und laufen bis nach Garz. Der gemeinsame Besuch der Abendmesse in der Begräbniskirche fördert unsere unterschiedlichen Hintergründe zutage: gläubig, suchend, fragend, getauft, nicht getauft, katholisch, kirchenfern. Irritation, Fragen und Bekenntnis haben gleichermaßen ihren Platz in unserer Abendreflexion. An den Tisch des Herrn bleiben bei uns alle geladen, wir wachsen an uns und zusammen. Ein echtes Pilgererlebnis.

Mittwoch. Was ist wirklich wichtig? ‚Schweige und höre, neige Deines Herzens Haupt, suche den Frieden.’ Die wunderschöne kleine Kirche St. Stephanus in Swantow war mal katholisch, mal evangelisch, mal Getreidespeicher! Unser Kanon erklingt in diesen alten aber hellen Gemäuern bescheiden und ergreifend zugleich. Er legt uns den inneren Weg noch einmal wirklich nahe, genauso wie die Impulse unserer SeelsorgerInnen uns das Schweigen heute. Wer möchte, kann an seine Substanz gehen. Mit Silbermond: Ab heute nur noch die wichtigen Dinge! Rügen lässt uns laufen, es bietet uns seine Pfade an, Sand und Erde knirschen unter unseren Schuhen und in unseren Gedanken. Die Ostsee liegt vor uns wie ein Schlüsselloch zur Ewigkeit. Wir schweigen an Ampeln, Autos und nicht pilgernden Menschen vorbei. Wir sprechen mit EinwohnerInnen in Dörfern und vor ihren Häusern. Begegnungen. Versöhnung über den Gartenzaun, die wirklich wichtigen Dinge passen in ein paar Sätze. Von Mensch zu Mensch. Unser Gebet ist heute unser Hören. Wir erreichen Gustow. Eine wunderschöne Unterkunft und der erste Regen! Stempel. Pilgerpass. Abendessen. Abendritual.

Herr es ist Zeit, der Sommer war sehr groß. Und. Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln. Wir packen heute morgen noch einmal alles ein. Nichts und niemand kann uns davon abhalten heute bis Stralsund zu pilgern. Es liegt Nebel über den Feldern, ein Zauber über uns. Etwas entdecken, was wir mit nach Hause nehmen. Kreise schließen, Kreise ziehen. Den Sommer verabschieden, den Herbst begrüßen. Leben. Laufen. Als wir die Kirchtürme von Stralsund erahnen, erahnen wir auch das Ende. Das Ende. Den Anfang? Wehmut, Freude, das Gespür fürs Gepäck. Das eigene Gepäck. Den eigenen Rucksack. Wir rücken noch einmal ganz nah zusammen und lassen uns auf das Trennungsritual ein. PilgerIn wird man nie allein. Wir? Wir werden preisgeben, dass dieser Weg zu den intensivsten Erfahrungen gehört, die wir je gemacht haben. JedeR von uns hat Raum in sich, in dem das alles nachhallen wird. Aus den zwölf, sich bisher unbekannten Menschen, ist eine Gemeinschaft geworden, aus den Frauen und Männern, den Ossis und Wessis, den PolizistInnen und anderen. Wir sind PilgerInnen geworden. Gemeinsam. Wir sind Frank, Bärbel, Harriett, Susanne, Max, Cornelia, Jutta, Malgosia, Sarah, Berit, Uwe und Thomas.

Fragen? Fragen haben wir nach wie vor mehr als Antworten. Gepäck? Immer genug. Aber ein paar Antworten unterwegs haben den Blick darauf verändert und ein bisschen uns verändert.