„Gote, wie Gottfried“ – „Dora, wie Dorf-Randlage“: über eine Mauer aus Hohlbausteinen, bestimmt zwei Meter hoch, lernt Dora ihren ersten Nachbarn in Bracken kennen. Gote hatte kurzerhand ihren Hund über diese Mauer hinweg in den Garten zurückgeworfen und der Vorstellung nachgetragen: „Angenehm, ich bin hier der Dorf-Nazi“; mit kahlrasiertem Schädel sieht er auch so aus. Ihr Hund – genau genommen eine Hündin – namens „Jochen-der-Rochen“ bleibt unverletzt.
Juli Zehs neuer Roman „Über Menschen“ beginnt wie eine Art Versuchsanordnung rund um die Werbetexterin Dora, die vor Berlin, ihrem Freund, ihrer Familie, Corona, etc. in die „Dorf-Randlage“ von Bracken, Prignitz, flieht, und den „Dorf-Nazi“ Gote. Die Klischees wirken sehr absichtsvoll gesetzt, offenbar aber nur, um sie umso lustvoller infrage stellen und schließlich komplett umwerfen zu können.
Da fehlen also weder Mülltrennung, Fridays-for-Future, Blogs und Start-Ups auf der Seite der Städter noch der Öffentliche Personennahverkehr mit seinen Tücken, der Pick-Up und die „Pflanzkanacken“, womit offenbar ausländische Hilfskräfte in der Landwirtschaft gemeint sind, auf der Seite der Landbevölkerung. Lediglich Anspielungen auf ein mitunter nicht vorhandenes Mobilfunk-Netz hat sich die Autorin verkniffen.
Die Wirklichkeit hinter dem Klischee ist natürlich komplizierter und die Menschen viel interessanter und differenzierter. Mit dem Titel „Über Menschen“ spielt Juli Zeh selbst auf den Vorgänger-Roman „Unterleuten“ an. Auch wenn „Unterleuten“ ein Ortsname war, geht es ausdrücklich nicht nur um „Leute“ sondern um Menschen, um Individuen.
„Was tun Sie“, wurde Herr K. gefragt, „wenn Sie einen Menschen lieben?“ „Ich mache einen Entwurf von ihm“, sagte Herr K., „und sorge dafür, daß er ihm ähnlich wird.“ „Wer? Der Entwurf?“ „Nein“, sagte Herr K., „der Mensch.“
Diese „Geschichte vom Herrn Keuner“ von Bertolt Brecht wird auch gern als Anspielung auf das biblische Bilderverbot gelesen. Ursprünglich auf Gott gedeutet, von dem man sich kein Bild machen soll, weil er anders, größer, unbeschreiblich ist, wird es hier auf die Menschen übertragen: Wer liebt macht sich eben kein Bild von den Menschen, die er liebt.
Dora macht sich kein Bild, ratlos und manchmal sogar ein wenig schuldbewusst hört sie sich die Urteile ihres Freundes an, weiß keine rechte Antwort auf „den Entwurf“, den Arbeits-Kolleginnen und Kollegen sich von den Brandenburgern machen, und schilt sich selbst, wenn sie den rassistischen Ausfällen ihres hilfsbereiten Nachbarn mit der Motorsense keine schlagfertigen Antworten entgegensetzen kann.
Deswegen führt der Titel „Über Menschen“ auch in die Irre, wenn man sich an den Latein-Unterricht erinnert. Denn anders als Cicero, der in „de re publica – Über den Staat“ tatsächlich die Republik erklärt, erklärt Juli Zeh nichts. Dafür schaut sie genau hin und lässt Dora staunen über das was hinter der hohen Wand zum Nachbarhaus vorgeht.
„Über Menschen“ wäre auch missverstanden als ein Ausdruck des Drüberstehens, schon gar nicht im Sinn von „Übermenschen“ oder perfekten und idealen Menschen. Dora muss zwar – fast bis zum Ende – auf einen Stuhl steigen, um über die Mauer hinweg mit ihrem Nachbarn zu verhandeln, von Überheblichkeit jedoch keine Spur. Auch wenn man detaillierte Beschreibungen ihres Äußeren vergeblich sucht, so stellt man sie sich als eine eher kleine Frau – wenn auch mit großen Händen – vor. Sie scheinen der Autorin sehr wichtig zu sein, auch wenn Dora dafür zeitlebens manchen Spott ertragen musste. Zum Händeschütteln braucht sie sie nur selten, schließlich beschreibt der Roman bereits die Corona-Zeit, dafür aber ist sie bereit mit den großen Händen auch viel zu geben, mitunter mehr als sie selbst für vernünftig hält. In jedem Fall sind sie aber dienlich, um einen Spaten zu halten und den Boden umzugraben.
Auch wenn Dora nur nach Bracken zieht und der Ort fiktiv zu sein scheint, ist „Über Menschen“ doch auch so etwas wie eine weitere „Wanderung durch die Mark Brandenburg“. Ähnlich wie Fontanes Reisebeschreibungen lädt auch Juli Zeh ein, aufzubrechen, sich auf Begegnungen einzulassen, Vorurteile zu überprüfen und es zu ertragen, dass man sich das Verhalten von Menschen nicht restlos erklären kann. „Über Menschen“ mag die Menschen und lädt ein, genau hinzuschauen. Es verzichtet auf Heiligsprechung und Verurteilung in gleicher Weise, dafür fordert es auf, zu seinen Gefühlen zu stehen und Verantwortung zu übernehmen, nicht im hohen Ton und schon gar nicht moralin-getränkt.