Berliner erzählen in Schau die jüdische Geschichte ihrer Stadt
Der schwarze Hut von Gabriele Tergit befindet sich aktuell hinter Glas. In ihrem Jahrhundertroman "Effingers" bewahrte die Schriftstellerin, die 1933 vor den Nazis ins Exil floh, "das jüdische kulturelle Berlin" - so formulierte es die Literaturkritikerin Nicole Henneberg jüngst in einem Interview des Bayerischen Rundfunks. Nun erhält die Autorin einen Platz in einer am Montag eröffneten Ausstellung in der Stiftung Neue Synagoge Berlin - Centrum Judaicum.
Sie steht unter dem Titel "Jüdisches Berlin erzählen. Mein, Euer, Unser?". Im Frühjahr hatte sich die Einrichtung mit dem Aufruf "Und was ist Ihr jüdisches Berlin?" an alle Berliner und Berlinerinnen gewandt. Eine Auswahl der erhaltenen Rückmeldungen wird nun in der Schau präsentiert. Ihr Anlass ist das Jubiläum 1.700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland sowie das Bestehen der Jüdischen Gemeinde zu Berlin, die in diesem Jahr ihren 350. Geburtstag begeht.
An einem "Geschichten-Kaleidoskop" werden die Besucher zu Beginn vorbeigeführt. Berlinerinnen und Berliner geben mit Texten, Bildern und Objekten ganz individuelle Einblicke. Da hängt zum Beispiel eine Collage der Schülerin Luna Niesler. Für ein Projekt im Religionsunterricht begab sie sich auf Spurensuche der Kinder, die im einstigen jüdischen Waisenheim "Ahawa" (Liebe) in der Auguststraße lebten. Über ihr Schicksal konnte sie nichts herausfinden. In die Mitte ihres Bildes hat sie ein Foto in schwarz-weiß geklebt, auf dem rund 20 der Waisenkinder abgebildet sind. Von jedem Kind führt ein roter Faden zu einem selbstgebastelten Stolperstein. "Unbekanntes Kind", steht darauf. Und: "Ermordet in Auschwitz."
Da ist ein Statement eines Mitglieds von Keshet (Regenbogen) zu lesen, einem queer-jüdischen Verein. "Ich verbinde viele marginalisierte Identitäten", schreibt die Person. Da sitzt ein kleiner Teddybär im Glaskasten. Er war das Maskottchen der deutsch-israelischen Radiosendung "Kol Berlin", die es von 2006 bis 2016 gab. Da erinnern ein Whiskeyglas und eine Speisekarte an den Entertainer und bekannten Berliner Wirt Heinz Holl, der das Lager Theresienstadt überlebte.
"Wir zeigen Facetten der jüdischen Geschichte Berlins", sagte Direktorin Anja Siegemund. Dabei gehe es unter anderem um die diversen Selbstverständnisse der Protagonistinnen und Protagonisten. Die Schau umfasse die Perspektiven verschiedener Menschen "vom Professor bis zur Schülerin", so Kuratorin Eva Lezzi.
Die unterschiedlichen Perspektiven kommen vor allem im Herzstück der Ausstellung zum Tragen, einer Videoinstallation, die auf fünf nebeneineinander stehenden großformatigen Bildschirmen präsentiert wird.
Neun Personen erzählen dort in mehrminütigen Sequenzen ihre Geschichte. Eine davon stammt von Eliezer Zavadsky. Er berichtet davon, wie er als Sohn von Shoa-Überlebenden in Israel aufwuchs und nach Berlin kam. Gefilmt wurde er zwischen den Stelen des Denkmals für die ermordeten Juden Europas. Auf einer der Stelen legt er ein Fotoalbum mit alten Bildern seiner Familienmitglieder. Langsam blättert er durch die Seiten.
Auch Jalda Rebling, eine jüdische Sängerin, kommt zu Wort und erzählt von der Kindheit in der DDR. Dann steht sie auf der Bühne eines Berliner Theaters, den rechten Fuß wippend, die rechte Hand rhythmische Kreise drehend, und singt ein jddisches Lied. Der jüdischen Geschichte soll nicht nur am Mahnmal gedacht werden, sagt die Kuratorin später, sondern überall in der Stadt.
Neben dieser dominierenden Videoinstallation geht ein weiterer Film, mit dem die Schau beschließt, fast ein wenig unter. Dabei bildet er eine Diskussion ab, der zentrale Themen der Ausstellung in den Fokus rückt. Wer darf erzählen und öffentlich erinnern, kann es ein gemeinsames Erinnern im Stadtraum geben?
Gibt es im Bezug auf die Erinnerung ein "Wir", das zwischen jüdischen und nicht-jüdischen Menschen existiert, fragt etwa die Essayistin Esther Dischereit - und sollte es das überhaupt geben? Die Antworten darauf fallen unterschiedlich aus. Wie es eben auch die Menschen sind, die sie geben.