"Wir nannten ihn heimlich Bischof von Berlin"Bis heute wird Carl Sonnenschein als "Großstadtapostel" verehrt

Prälat Przytarski enthüllt die Gedenktafel, Foto: Walter Wetzler

War er ein Seelsorger, der "Großstadtapostel" Carl Sonnenschein, der vor gut 85 Jahren, am 20. Februar 1929 starb? In seinen letzten zehn Lebensjahren, von 1918 bis zu seinem Tod, hatte der gebürtige Düsseldorfer das katholische Berlin durchgeschüttelt wie ein Wirbelsturm und so gar nicht dem damaligen Priesterbild entsprochen.

Der Publizist Kurt Tucholsky brachte es prägnant auf den Punkt. Im Januar 1931 schrieb er unter dem Pseudonym "Peter Panter" in der Zeitschrift "Die Weltbühne" über Sonnenschein mit Blick auf dessen ungewöhnlich vielfältiges soziales Engagement: "Er war kein Seelsorger; er war zunächst ein Leibsorger."

Sonnenscheins Bemühungen hatten aber auch ein anderes Ziel: Er wollte den Menschen verändern, jeden Einzelnen, und durch ihn die Verhältnisse in der Stadt. Seine "Geistsorge" galt zunächst den Studenten, den Intellektuellen, den Künstlern, für die er sein Büro in der Georgenstraße 44 unweit der heutigen Humboldt-Universität eingerichtet hatte. Aber dann kamen auch die anderen, die Armen und Hilflosen, die Ausgestoßenen. Bei ihnen hatte es sich herumgesprochen, dass bei Sonnenschein keiner ohne Trost und ohne Hilfe fortgeschickt wurde.

Sie machten Sonnenschein mit der brutalen Not der Menschen im Nachkriegs-Berlin bekannt. Sonnenschein sah schnell ein, dass es mit der intellektuellen "Geistsorge" nicht getan war, wenn der Leib unversorgt blieb: "Es ist schon so, wie Käthe Kollwitz die Häuser und die Höfe malt. Ich schäme mich in diesem Norden und Nordosten die Zehn Gebote zu predigen, wenn ich nicht in rastloser Hingabe helfe, dass sie erfüllt werden können", schrieb er im August 1924 in der Zeitung "Germania" über die Arbeiterbezirke der Reichshauptstadt.

Weil er selbst bescheiden lebte, wurde er auch von denen respektiert, die der Kirche schon sehr fern standen. Er ging in die Betriebe und diskutierte mit den Arbeitern über Jugendweihe und Feuerbestattung, über Freidenker und die Aufforderung der Sozialdemokraten, die Kirchen zu verlassen, über die staatlich geförderte Abtreibung und über die Entfernung religiöser Literatur aus den öffentlichen Bibliotheken.

Neben seiner Wortgewalt, die er auch als erster Radioprediger einsetzte, war die Kirchenzeitung sein Medium. In der noch ungeordneten kirchlichen Struktur vor der Gründung des Bistums Berlin übernahm Sonnenschein handstreichartig die Redaktion. Er führte die vor sich hin dümpelnde Zeitung in kurzer Zeit zu einer vorher und nachher nie gekannten Blüte. Die Auflage stieg rasant von 15.000 auf 100.000 Abonnements.

Ein Grund waren seine "Notizen" - aktuelle, kritische Anmerkungen und Betrachtungen zu Themen der Kirche, der Religion und der Welt. Fast 300 solcher "Notizen", immer auf der zweiten Seite, machten "C.S." weit über den kirchlichen Bereich hinaus bekannt. "Wir, die wir literarisch verwöhnt waren, griffen begierig nach dem Sonnenscheinschen. Für uns war er ein großer Autor, was er schrieb, war Literatur", urteilte später der Politikwissenschaftler Theodor Eschenburg im Rückblick auf seine Studentenzeit in Berlin.

Sonnenschein war im Jahrzehnt vor der Gründung des Bistums ein Synonym für die Kirche in Berlin. "Wir nannten ihn alle, meine Freunde und Freundinnen, ob Juden oder Christen, heimlich den Bischof von Berlin", schrieb die Dichterin Else Lasker-Schüler in ihrem Nachruf auf Sonnenschein. Zahlreiche Projekte und Initiativen hat Sonnenschein angestoßen: Zwei Siedlungen für kinderreiche Familien, Wander- und Sportvereine, eine Akademische Lesehalle mit 5.000 Bänden und 150 deutschsprachigen Zeitungen, ein Heimatblatt, die Gründung neuer Gemeinden am Stadtrand und Geldsammlungen für ärmere Gemeinden, damit diese aus Pferdeställen, Autowerkstätten und Kneipen heraus kamen.

Vieles war auf Sonnenscheins Person hin zugeschnitten. Manches hätte wohl auch dann nicht überlebt, wenn die Nazis, die große Teile seines Werkes zerschlugen, nicht an die Macht gekommen wären. Auch wenn er weithin vergessen ist, erinnern bis heute bundesweit Straßen und Schulen an den ungewöhnlichen Geistlichen.