Berlin (KNA) Kirchlich gesehen gehört das "Hauptstadt"-Erzbistum Berlin nicht zu den wichtigsten Diözesen in Deutschland. Das nach Hamburg flächenmäßig zweitgrößte Bistum liegt mit seinen rund 409.000 Katholiken und seiner geringen Finanzkraft im unteren Mittelfeld der 27 deutschen Bistümer. Auch den inoffiziellen Titel, das "schwierigste Bistum der Weltkirche" zu sein, wie Papst Johannes Paul II. einmal sagte, als es noch von Mauer und Stacheldraht durchzogen wurde, hat es seit der Wiedervereinigung Deutschlands nicht mehr. Doch solche Einordnungen sind für das kirchliche Leben ohnehin kaum von Bedeutung.
Wichtiger ist da schon die Bemerkung, die der damals neue Erzbischof Rainer Maria Woelki beim Besuch von Papst Benedikt im Olympiastadion im September 2011 machte: Berlin sei keineswegs eine gottlose Stadt, sondern "vielmehr sogar eine Stadt der Märtyrer". In keiner deutschen Stadt seien "im 20. Jahrhundert mehr Christen als Zeugen für Christus und seine Botschaft gestorben" als in Berlin. Unter den Geistlichen und Laien des Bistums, die ihren Einsatz für die Verfolgten oder ihren Widerstand gegen die Nazis mit dem Leben bezahlten, ist der 1996 seliggesprochene Dompropst Bernhard Lichtenberg (1875-1943). Die Erinnerung an die Märtyrer des Nationalsozialismus - und an die vielen, die in den Zeiten des Kommunismus ihren Glauben bewahrt haben - gehört, auch wenn nur noch wenige Zeitzeugen der NS-Zeit leben, zu den bleibenden Aufgaben der Berliner Ortskirche.
Junges Bistum mit langer Geschichte
Als eigenes Bistum besteht sie noch keine 100 Jahre. Die Gründung 1930 - an einem 13. August, einem Datum, das durch den Bau der Berliner Mauer 1961 mit ganz anderen Erinnerungen verbunden ist - erfolgte auf der Grundlage des sogenannten Preußen-Konkordats von 1929. Bis dahin war die große Region ein Delegaturbezirk des Bistums Breslau. Der östlich der Oder gelegene Teil einschließlich der Hafenstadt Stettin fiel 1945 an Polen und kam 1972 zu zwei neugegründeten polnischen Diözesen.
Die Geschichte des Christentums im Gebiet des heutigen Erzbistums Berlin (seit 1994) reicht mindestens 1.000 Jahre zurück. Bereits im 10. Jahrhundert wurden hier die Bistümer Brandenburg und Havelberg gegründet, im 12. Jahrhundert die weiter östlich gelegenen Bistümer Lebus und Kammin. Deren Entstehung war verbunden mit den zwei Missionsreisen, die Bischof Otto von Bamberg, heute Berliner Bistumspatron, 1124/28 nach Pommern unternahm. In der ersten urkundlichen Erwähnung von Berlins mittelalterlicher Vorgängerstadt Cölln 1237 wird ein Pfarrer namens Simeon von der Petrikirche zu Cölln unter den Zeugen aufgeführt.
Gründungen von Zisterzienserklöstern wie Lehnin, Zinna oder Chorin im 12. und 13. Jahrhundert, aber auch eines Benediktinerinnenklosters in Spandau sowie von Klöstern der Franziskaner und Dominikaner in Berlin und Cölln zeugen von einem reichhaltigen kirchlichen Leben. Nicht immer ging es konfliktfrei zu: So verhängte nach dem Mord an Propst Nikolaus von Bernau der damals in Avignon residierende Papst Johannes XXII. einen 20 Jahre dauernden Kirchenbann über Berlin und Cölln, der erst 1345 wieder aufgehoben wurde, nachdem die Bürger Bußzahlungen geleistet und ein Sühnekreuz errichtet hatten.
Nach der Reformation wurde Brandenburg 1540 protestantisch, die mittelalterlichen Bistümer sowie katholische Einrichtungen und Klöster wurden aufgelöst. Doch die Expansion Brandenburg-Preußens führte dazu, dass auch wieder Katholiken zum Land gehörten. Preußenkönig Friedrich II. ließ für sie nach den Schlesischen Kriegen die 1773 geweihte Sankt-Hedwigs-Kirche - die heutige Kathedrale des Erzbistums - bauen. Die Industrialisierung und der Aufschwung Berlins als Reichshauptstadt zogen dann im 19. Jahrhundert zehntausende Zuwanderer aus den katholischen Landesteilen an, was zu zahlreichen Pfarrei-Gründungen und neuen Kirchbauten führte.
Herausragende Köpfe, prägende Gestalten
Prägende Gestalten Anfang des 20. Jahrhunderts waren der "Großstadt-Apostel" Carl Sonnenschein und der Theologe Romano Guardini, für den 1923 an der damaligen Friedrich-Wilhelms-Universität ein Lehrstuhl für Katholische Weltanschauung eingerichtet wurde, an dem er bis zur erzwungenen Emeritierung 1939 durch die Nationalsozialisten - mit dem formalen Status eines "ständigen Gasts" - lehrte.
Unter den bisher zehn Berliner Bischöfen waren mehrere prägende Gestalten. Der aus Bayern stammende Konrad Graf von Preysing (1935-50), von Anfang an ein entschiedener Gegner des NS-Regimes, gehörte zu den herausragenden Köpfen des damaligen Episkopats. Auch sein Kurs gegenüber dem sich nach dem Krieg herausbildenden SED-Staat setzte Maßstäbe. Unter seinen Nachfolgern war Julius Döpfner (1957-61), später Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz. Auf ihn folgte der bisher einzige gebürtige Berliner, Alfred Bengsch (1961-80), der unmittelbar nach dem Mauerbau ernannt wurde und fast zwei Jahrzehnte den kirchenpolitischen Kurs einer "loyalen Distanz" - so der Historiker und Publizist Martin Höllen - in der DDR prägte. Ihm gelang es trotz aller Schwierigkeiten, die Einheit des Bistums zu bewahren.
Aus Erfurt kamen dann Joachim Meisner (1981-89), der noch zu DDR-Zeiten auf spektakuläre Weise nach Köln berufen wurde, sowie Georg Sterzinsky (1989-2011). Dieser stand vor der schwierigen Aufgabe, das politisch, aber nicht kirchenrechtlich geteilte Bistum wieder zusammenzuführen, was sich als schwieriger erwies, als zunächst angenommen und um die Jahrtausendwende zu einer massiven Finanzkrise führte. Sein Nachfolger Woelki startete in seiner kurzen Amtszeit eine einschneidende Strukturreform des Erzbistums und nahm eine Sanierung und Umgestaltung der Kathedrale in Angriff - beides nicht unumstrittene Projekte, die jetzt der neue Erzbischof Heiner Koch zu Ende bringen muss.
Einen besonderen Akzent setzt das (Erz-)Bistum Berlin seit jeher auf Schule und Bildung; in der Hauptstadt ist es der größte Träger von freien Schulen. Nach den Erfahrungen des Nationalsozialismus gründeten die Katholiken in West-Berlin eine Reihe von allgemeinbildenden Schulen. In der DDR war dies nicht möglich, nur die 1894 gegründete und von den Nazis 1941 geschlossene Theresienschule in Ost-Berlin konnte dank einer frühen Lizenz der sowjetischen Besatzungsmacht bis zum Ende der SED-Herrschaft als Mädchengymnasium bestehen.
Herzensanliegen Bildung und Caritas
Nach der Wende kamen in Brandenburg drei Neu- beziehungsweise Wiedergründungen hinzu. Eigene Bildungsstätten waren und sind den Katholiken nicht zuletzt deshalb wichtig, weil der Religionsunterricht an staatlichen Schulen in Berlin und Brandenburg anders als im übrigen Bundesgebiet nur ein freiwilliges Zusatzfach ist, das in kirchlicher Verantwortung für zumeist kleine Gruppen erteilt wird. Trotz der umstrittenen Einführung des Pflichtfachs Ethik an den staatlichen Schulen 2006 sind die Schülerzahlen im Religionsunterricht seit Jahren relativ stabil geblieben.
Ebenfalls stark engagiert ist das Erzbistum in der karitativen Arbeit. In den Krankenhäusern, Sozialstationen, Beratungsstellen und anderen Einrichtungen in Trägerschaft des Diözesancaritasverbands sind rund 11.000 hauptamtliche Mitarbeiter tätig. Aus Eigenmitteln des Erzbistums flossen laut dem jüngsten Geschäftsbericht im Jahr 2012 rund 6,9 Millionen Euro in diese Arbeit. In den vergangenen Jahren immer wichtiger wurde die Hilfe für Flüchtlinge und Asylbewerber, die auch den Erzbischöfen Sterzinsky und Woelki erklärtermaßen ein persönliches Anliegen war.
Mentalitätsunterschiede, Multinationalität, religiöse Vielfalt, starke Ökumene
Auch ein Vierteljahrhundert nach der Wiedervereinigung des 28 Jahre durch die Mauer getrennten Bistums gibt es noch Mentalitätsunterschiede in Ost und West, deren Stellenwert allerdings nachlässt. Das hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass Berlin immer noch - wie meist in seiner Geschichte - durch Zuwanderung geprägt ist. Aufgrund dieses Zustroms bleibt hier zugleich auch der Katholikenanteil seit Jahren mit gut neun Prozent relativ stabil. Zum Vergleich: Der Anteil der Protestanten sank in zwei Jahrzehnten um ein Drittel, von 26 auf 17,5 Prozent.
Mit ihren derzeit gut 331.000 Katholiken (leicht steigende Tendenz) liegt die Hauptstadt jedenfalls - Diaspora hin oder her - nach Köln und München zahlenmäßig auf dem dritten Platz in Deutschland, was sich im Selbstbewusstsein der Gemeindemitglieder nicht unbedingt widerspiegelt. Auch intellektuell - etwa was die Präsenz der katholischen Theologie betrifft - besteht hier noch Nachholbedarf. Ganz anders sind die Verhältnisse in den zum Erzbistum gehörenden Regionen Brandenburgs und in Vorpommern: die dort lebenden 63.000 beziehungsweise 14.000 Katholiken verteilen sich auf weiträumige Pfarreien mit relativ wenigen Mitgliedern.
Nicht zuletzt diese Disproportionen machen die fällige Neuordnung der Seelsorgestrukturen schwierig: Patentrezepte, die überall passen, gibt es nicht. Hinzu kommt, dass mittlerweile jeder fünfte Katholik des Erzbistums einen "Migrationshintergrund" hat - die rheinländischen oder schwäbischen Zuwanderer noch nicht mitgezählt. Das bleibt nicht ohne Folgen für den in der Vergangenheit stark schlesisch geprägten Berliner Katholizismus.
Angesichts einer Bevölkerungsmehrheit, die konfessionslos, bisweilen auch religionsfeindlich ist, aber auch angesichts der wachsenden Rolle des Islam, sind die Kirchen in den vergangenen Jahren enger zusammengerückt. Im Ökumenischen Rat Berlin-Brandenburg arbeiten 31 Mitgliedskirchen zusammen, Kooperationen gibt es auch mit dem "Internationalen Konvent Christlicher Gemeinden in Berlin und Brandenburg" und dem "Rat Afrikanischer Christen in Berlin und Brandenburg". Nicht ohne Grund fand 2003 der erste bundesweite Ökumenische Kirchentag in Berlin statt. Dies sind einige der Rahmenbedingungen, unter denen sich die mittlerweile vierte Generation seit der Bistumsgründung - nach den Auseinandersetzungen mit den beiden Diktaturen und den Mühen der Wiedervereinigung - neu positionieren muss.