Auch in Gefängnissen ist Corona ein wichtiges Thema. Diakon Thomas Marin, Gefängnisseelsorger an der Jugendstrafanstalt Berlin sowie der Justizvollzugsanstalt Plötzensee, kennt die Sorgen und Ängste der Häftlinge. Er beschreibt aber auch positive Veränderungen.
Diakon Marin, was bewegt die Gefangenen in diesen Zeiten?
Einerseits die Sorge, dass ihre Angehörigen infiziert werden könnten, andererseits aber auch eine unmittelbare Sorge, von ihrem Umfeld abgeschnitten zu sein. Der eine will mit der Mutter reden, der andere mit seiner Freundin, die nicht wissen, wie es ihnen gerade geht. Das sind die Dinge, um die ihre Gedanken kreisen, wenn sie auf knapp zehn Quadratmetern eingeschlossen sind. Es sind oftmals die kleinen menschlichen Dramen, die es im Knast genauso wie draußen gibt. Nur draußen können sie leichter gelöst werden.
Fühlen sie sich von dem Virus bedroht?
Als junge Männer sehen sie sich nicht als Teil der Risikogruppe. Wer Angehörige hat, die zur Risikogruppe gehören, nimmt die Pandemie anders wahr als derjenige, der eine Heimkarriere mit völlig kaputten Familien hinter sich hat. Sie kriegen schon mit, dass es draußen massive Einschränkungen gibt. Sie sehen ja die Nachrichten und kennen die furchtbaren Bilder aus Bergamo, als die Särge mit den Coronatoten nicht abtransportiert werden konnten.
Auch in Gefängnissen gibt es Quarantäne-Bereiche. Wie erleben Sie dort die Gefangenen?
Es trifft sie hart. Sie haben in der Zeit keine Möglichkeit zu Arbeit oder Einkäufen, weil das in den Haftabläufen nicht möglich ist. Sie sind viele Stunden des Tages eingeschlossen und ihnen fällt die Decke fast auf den Kopf. Die allermeisten sind Raucher und leiden zusätzlich unter dem Entzug. Ostern bin ich mit einem Beamten durch den Bereich gegangen und habe Tütchen mit Süßigkeiten verteilt.
Wie kann das allgemeine Besuchsverbot im Gefängnis abgemildert werden?
Seit kurzem kann jeder Gefangene gelegentlich 20 Minuten mit seinen Angehörigen skypen. Dennoch bleibt das Besuchsverbot eine große Belastung für die Männer.
Suchen die Gefangenen einen anderen Zugang zu Ihnen als sonst?
Interessanterweise ist die Nachfrage nach Einzelgesprächen geringer. Gottesdienste sind, wie draußen, verboten, Gruppenandachten, die meine evangelische Kollegin und ich für jeweils fünf Personen anbieten, werden angenommen. Für die Vorbereitung dazu sind wir in den Hafthäusern mit den Männern viel im Gespräch. Das Thema Corona bleibt ein wichtiges, aber hauptsächlich auf der informellen Ebene.
Nur fünf Personen pro Gruppenandacht, wie organisieren Sie das?
Es finden acht statt. Es ist eine abgespeckte Form des Gottesdienstes mit ein paar Worten zum Evangelium. Die Schwierigkeit ist, dass nicht alle Gefangenen Deutsch sprechen. Ein paar Brocken Russisch kann ich, bei Rumänisch oder Vietnamesisch hörts auf.
Ein anderer Seelsorger erzählte mal, wie sehr die Gefangenen an seinem Gesichtsausdruck nachvollziehen wollen, was er in seiner Predigt sagt. Wie kriegt man das in acht Stunden authentisch hin?
Erst einmal, ich verteile die Gruppenandachten auf samstags und sonntags. Natürlich habe ich auch eine Haltung zu dem, was ich verkünde und zu den Menschen, die ich anspreche. Jede Andacht ist ein bisschen anders.
Sie sind als Seelsorger eine wichtige Kontaktperson für die Inhaftierten.
Ja, weil ich als einziger Teil des Systems im Gefängnis absolut der Schweigepflicht unterliege.
Kontakt setzt Nähe voraus...
Die Jungs strecken mir nach wie vor die Hand hin und kriegen dann einen Ellbogen oder Fuß angeboten. Wir machen einen Spaß daraus. Mit den anderthalb Meter Abstand ist es bei den jungen Männern manchmal schwierig. Dann muss ich sie daran erinnern.
Vor manchen Altenheimen, wo auch das Besuchsverbot gilt, wird Musik gemacht oder andere Aktionen.
Findet vor den Gefängnismauern Ähnliches statt?
Das ginge nur in der JVA Moabit. In den anderen Haftanstalten in Berlin sind die Häuser zu weit weg von den Mauern. Aber es kennen mich draußen einige und meine Arbeit. Zu Ostern bäckt eine Eremitin immer Lämmer aus Teig, die ich dann verteile. Die Gefangenen denken noch Wochen danach daran, bedanken sich, dass jemand draußen an sie denkt. Das finden sie rührend.
Welche Veränderungen beobachten Sie in den vergangenen Wochen?
Die einen sind ganz vorsichtig, die anderen euphorisch und denken, man kann wieder alles machen wie vorher. Es war am Anfang so, dass einige wenige Gefangene sagten: Wenn ich keinen Besuch bekomme, dann werde ich denen schon zeigen, wo der Hammer hängt. Ich beobachte inzwischen aber ein besseres Einvernehmen zwischen Gefangenen und Beamten. Man fühlt sich mehr wie in einem Boot, ohne dass es ausgesprochen wird.
Was nehmen Sie aus dieser Zeit mit?
Die neuen Blickwinkel auf Selbstverständlichkeiten, die ich gewonnen habe, möchte ich mir gerne bewahren. Ich hoffe, dass sie bei den Jungs bewirkt, mehr aufeinander zu schauen und zu achten. Und, dass das bessere Miteinander zwischen Gefangenen und Beamten weiterhin anhält.