Die Leute nicht hängen lassen

Das alte Pfarrhaus von St. Pius beherbergt die Kältehilfe. Rechts neben dem Gebäude stehen derzeit vier „Lodges“ als Notunterkünfte. Foto: Gierens

Die Berliner Kältehilfe kämpft mit den Folgen der Corona-Pandemie. Neben der Streichung von Betten bereitet den Organisatoren vor allem die unklare Finanzierung Kopfzerbrechen.

Vor dem Pfarrhaus der St.-Pius- Gemeinde in Berlin-Friedrichshain sind vier Holzhütten aufgestellt. „Lodges“ heißen die kleinen Unterkünfte mit Bett und Frisiertisch, die normalerweise für Open-Air-Festivals eingesetzt werden. Doch hier erfüllen sie einen anderen Zweck: Obdachlose können dort übernachten – die Gemeinde betreibt seit vielen Jahren eine Kältehilfe für Wohnungslose. Nicht, dass in dem großen, alten Pfarrhaus zu wenig Platz für Betten wäre. Aber in Corona- Zeiten heißt es auch hier „Abstand halten“. So müssen einige Schlafplätze nach draußen in die Holzhütten verlagert werden. Damit die Obdachlosen nicht frieren müssen, ist eine kleine Elektroheizung drin, außerdem gibt es eine Heizdecke. „Trocken und kein Wind, das ist das Wichtigste“, meint Diakon Wolfgang Willsch. Er leitet die Einrichtung und hat jetzt alle Hände voll zu tun, damit auch in Zeiten von Corona keine Hilfsbedürftigen abgewiesen werden müssen. „Wir müssen vollständig anders arbeiten“, erzählt er. Die Aufnahmepraxis sei noch strikter als sonst. Wer zum Schlafen hierher komme, muss erst ins Bad zum Hände waschen. Im Aufenthaltsraum sollen sich maximal zehn Personen aufhalten, gegessen wird daher nacheinander in kleinen Gruppen. Im Haus müssen Mund-Nase- Masken getragen werden, nur am Tisch oder im Bett dürfen sie abgenommen werden.

Bettenzahl und Finanzierung

Aber das größte Problem ist: Wie können Abstandsregeln bei den Schlafplätzen eingehalten werden, ohne die Zahl der Betten drastisch zu senken? Normalerweise kommen 20 Personen in St. Pius unter, zehn weitere in der Nachbarkirche St. Nikolaus. Jetzt sind es nur noch zwölf beziehungsweise drei Personen, die Holzhütten eingerechnet. Doch das Bezirksamt Friedrichshain- Kreuzberg hat Abhilfe versprochen: In einer nahe gelegenen Pension sollen 25 Betten bis April nächsten Jahres dauerhaft für Obdachlose angemietet werden. Die Kältehilfe in St. Pius soll die dort Untergebrachten mit versorgen. „Berlinweit wird es keine Reduktion der Bettenzahl geben“, versichert auch Kai-Gerrit Venske, Fachreferent für Wohnungslosenhilfe beim Caritasverband des Erzbistums Berlin. Ab November sollen demnach – wie im Vorjahr – rund 1100 Schlafplätze zur Verfügung stehen. Auch die Berliner Caritas hat eine Anlaufstelle für Wohnungslose in der Weddinger Residenzstraße, die am 1. November öffnet. Statt wie sonst 25 werden auch hier wegen der Abstandsregeln nur 15 Menschen unterkommen, so Venske.

Doch Abstandsregeln und Hygienekonzepte sind das eine – ein großes Problem ist nach wie vor die immer noch nicht abschließend geklärte Finanzierung. Denn der Berliner Senat finanziert über die Bezirke die Obdachloseneinrichtungen mit einer Pauschale pro Platz. Heißt das in Corona-Zeiten weniger Plätze, weniger Geld? Für Kai-Gerrit Venske kann das keine Option sein. „Weil sich das Personal nicht reduziert, ist der Kostensatz pro Schlafplatz höher“, erklärt der Fachreferent der Caritas. 17 Euro gibt es üblicherweise; im letzten Jahr hat der Bezirk Mitte 32 Euro gezahlt, da ein Sicherheitsdienst für die Einrichtungen vorgeschrieben wurde. „Jetzt brauchen wir 55 Euro“, sagt Venske. Erst vor kurzem hat sich der Berliner Senat kurzfristig entschieden, dass es für die freien Träger eine Refinanzierung geben wird. Doch das ist noch nicht in trockenen Tüchern. „Man handelt auf eigenes Risiko. Wir wissen nicht, ob wir auf einem Teil der Kosten sitzenbleiben“, kritisiert Venske – und verweist darauf, dass die Finanzierung ein „Problem mit Ansage“ sei. Schließlich habe die Politik schon im Frühjahr gewusst, was auf die Obdachloseneinrichtungen zukommen werde. „Es ist nicht vorstellbar, warum Entscheidungen auf den letzten Drücker erfolgen“, ärgert sich der Caritas-Referent. Berlins Sozialsenatorin Elke Breitenbach (Linke) sieht die Schuld indes bei den Bezirksämtern. Diese hätten frühzeitig sagen müssen, „bei welchen Unterkünften es Probleme gibt und wie hoch die Mehrkosten sind“, kritisierte Breitenbach. Den Bezirken sei bekannt gewesen, dass das Land Berlin „die pandemisch bekannten Mehrkosten in der Kältehilfe trägt“. Deshalb hätten sie bereits gegenübern den Trägern der Notunterkünfte „einen Teil der Plätze zusagen können“.

Etwas beruhigter in punkto Finanzierung zeigt sich indes der Sozialdienst katholischer Frauen (SkF) in der Hauptstadt. Wie Sprecherin Ursula Snay mitteilt, hat sie zwar noch nichts schriftlich – aber sie geht davon aus, dass die Förderung nicht durch den Wegfall von Übernachtungsplätzen gekürzt wird. 67 Plätze gibt es normalerweise in der ganzjährig geöffneten Einrichtung „Evas Obdach“, in der seit Anfang des Monats zugänglichen Kältehilfe „Evas Haltestelle“ in der Müllerstraße sowie in der ab 1. November geöffneten Winternotübernachtung für Frauen in der Kreuzberger Großbeerenstraße. Aufgrund der Abstandsregeln gibt es lediglich 37 Betten – davon jeweils zehn in den beiden saisonalen Einrichtungen. „Wir kämpfen dafür, dass immer zwei Mitarbeiterinnen vor Ort sein können, die Personalkosten bleiben somit gleich“, unterstreicht Ursula Snay. Auch Diakon Willsch kann inzwischen aufatmen: „Es kam ein Anruf vom Bezirksamt, dass bis Dezember die Finanzierung gesichert sei.“

Für Wolfgang Willsch waren die letzten Wochen eine Belastung – nicht nur wegen der verschärften Hygieneregeln, sondern auch, weil er fast anderthalb Monate den Winterbetrieb in St. Pius vorbereitet hat, ohne sicher zu sein, dass er auch aufmachen kann. Seit Anfang dieses Monats läuft der Betrieb nun und Diakon Willsch sucht nach eigenen Angaben junge Leute, die einmal pro Woche eine Nachtschicht von 18.30 Uhr bis 8 Uhr übernehmen. Dafür erhalten sie eine Übungsleiterpauschale.

Quarantänestation mit eingeplant

Trotz der Corona-Gefahr wollen die Berliner Caritas wie auch die Gemeinde St. Pius keine Wohnungslosen abweisen, auch wenn sie beispielsweise Fieber oder Schnupfen haben. „Sie werden Einlass bekommen, aber müssen dann einen Covid-19-Test machen, eventuell über die Caritas- Ambulanz oder einen kurzen Draht zum Gesundheitsamt“, versichert Kai-Gerrit Venske. Für die Kältehilfe gilt eine Ausnahmeregelung: Der Schutz vor Erfrieren muss im Zweifel Vorrang haben. „Wir können die Leute nicht hängen lassen“, betont der Caritas-Referent. Auch Diakon Willsch kann sich das nicht vorstellen. Zwei der Holzhäuser will er für Obdachlose reservieren, die Corona-Symptome haben. Ein Zelt könnte als „Quarantäne-Station“ herhalten. Auch er wird mit dem Gesundheitsamt zusammenarbeiten, „aber das wird nicht funktionieren, abends arbeitet da keiner“, meint Willsch. „Da ist viel Improvisationsvermögen verlangt. Das ist nicht immer einfach, es sind spannende Zeiten“, ergänzt der Diakon. Außerdem sieht er viele offene Fragen: Was passiert, wenn es einen zweiten Lockdown gibt? Oder wenn Corona doch in die Einrichtung gelangt? „Das“, so Diakon Willsch, „weiß noch keiner so richtig.“