Am Steilufer im Badeort Sellin auf Rügen liegt etwas verwunschen im Wald die kleine Wallfahrtskirche Maria Meeresstern. Hier finden Touristen abseits des Trubels einen Ort der Ruhe und Stille – und stets einen Ansprechpartner.
Das Seebad Sellin auf der Ostseeinsel Rügen ist bekannt als mondäner Ferienort. Schmucke, restaurierte Altbauten und unzählige Seniorenresidenzen für betuchte Gäste prägen das Ortsbild. Die berühmte Seebrücke mit dem weißen Brückenhaus ist ein bekanntes Postkartenmotiv. Der „Rasende Roland“, eine historische Schmalspurbahn, ist eine der Touristenattraktionen. Doch der beliebte Ferienort birgt noch einen anderen Schatz, den viele Urlauber gar nicht kennen und oft eher durch Zufall entdecken. Ganz im Norden Sellins geht es plötzlich steil bergauf, eine Kopfsteinpflasterstraße führt in ein Waldstück hinein. Oben angekommen, findet sich versteckt hinter Bäumen, im Vorbeigehen fast zu übersehen, ein kleines Kirchlein. Die 1912 geweihte Kirche Maria Meeresstern ist ein Ruhepol mitten im Touristentrubel. Da die katholische Gemeinde sehr klein ist, begrüßt die Kirche vor allem Sommer-Urlauber. Nicht wenige von ihnen finden hier Erholung für die Seele, kommen nach langer Zeit wieder mit Gott ins Gespräch.
Ehrenamtliche betreuen die Kirche je eine Woche
An diesem sonnigen Samstagmorgen ist die Kirche noch leer. Auf der Wiese vor dem Eingang steht ein Strandkorb, daneben ein Tisch mit zwei Bänken und einer frischen Tischdecke. Auf einer Bank, die zur Rast einlädt, sind gelbe Engelsflügel aus Holz angebracht – für ein „himmlisches“ Foto hier oben, nur knapp 100 Meter von der inseltypischen Steilküste entfernt. Vivian und Michael Ragg haben gerade die beiden großen Flügeltüren geöffnet und richten die Kirche für Besucher her. Die beiden kümmern sich eine Woche lang ehrenamtlich um Touristen, erhalten dafür freie Logis in einem einfachen Appartement. Auch das ist eine Besonderheit: Weil die Tourismusseelsorgerin des Erzbistums, Gemeindereferentin Marion von Brechan, mehrere Kirchen betreut und zahlreiche Veranstaltungen für Urlauber anbietet, übernehmen Ehrenamtler jeweils für eine Woche den Dienst in der Wallfahrtskirche. Neben der kostenlosen Unterkunft gibt es einen freien Tag und am An- und Abreisetag übernimmt von Brechan den Dienst in der Selliner Kirche. Die Ruhe währt an diesem Morgen nicht lang. Vier junge Frauen kommen vorbei und sind wie viele andere erstaunt, hier eine Kirche zu finden. „Wir schauen mal, ob er uns reinlässt“, sagt eine der Besucherinnen in Richtung Michael Ragg. Er und seine Frau haben bereits alles vorbereitet: „Lust auf Kaffee oder Tee? Bitte bedienen Sie sich“, steht auf einem Schild im Eingangsbereich – darunter ein Tisch mit einer Kanne frischem Kaffee, heißem Teewasser, einer Karaffe Wasser mit Minze und Zitrone sowie ein paar Schokoriegel. Alles ist für die Gäste kostenlos, ein kleines Sparschwein freut sich über Spenden. Gegenüber hängt eine große Deutschlandkarte, wo Besucher mit roten Punkten ihren Wohnort markieren können. Schwerpunkt ist Berlin, hier sind schon viele Punkte übereinander geklebt. Auch aus Nordrhein-Westfalen kommen viele Gäste, ebenso aus Hamburg. Süddeutschland ist schwach vertreten.
„Mein Punkt steht da ganz alleine“, meint Michael Ragg, der mit seiner Frau aus dem Oberallgäu in den hohen Norden gereist ist. Eigentlich, so erzählt er, hat er die Tourismusseelsorgerin im vergangenen Jahr angesprochen, um im Sommer auf einer Bädertour seine Vorträge anzubieten. Der Publizist und Vortragsredner betreibt die Agentur „Raggs Domspatz“, die sich nach eigenen Angaben der Förderung der christlichen Kultur widmet. Drei Vorträge sind es 2022 in Stralsund sowie in Bergen auf Rügen. Es geht um die „seelische Hausapotheke“, ums Aufräumen im Haus und im Herzen sowie um Dankbarkeit als „Tor zur Freude“. Doch als er erfuhr, dass ehrenamtliche Helfer für die Touristenseelsorge gesucht werden, sagte Ragg spontan zu und empfängt nun Besucher in dem idyllisch gelegenen Kirchlein, die hier eine Stärkung für Leib und Seele finden.
Angebote für Kinder und Erwachsene
Wer sich mit Kaffee oder Wasser gestärkt und den schlichten Kirchenraum betreten hat, erbaut im Stile des Historismus mit neoromanischen und neugotischen Elementen, findet verschiedene Stationen, die Jung und Alt zur Meditation einladen. Anhand einer bunten Bibel mit Motiven des Malers Marc Chagall können Kinder biblische Geschichten entdecken. Für Erwachsene gibt es Kärtchen für Fürbitten, Kästchen mit kurzen Gebeten oder Segenssprüchen und eine Station mit „Schmunzelsteinen“ mit einem lachenden Gesicht, das Zuversicht und Hoffnung verbreiten soll. Über QR-Codes können Youtube- Videos mit Orgelmusik aufgerufen werden oder, passend zum Namen der Kirche, das Marienlied „Meerstern, ich dich grüße.“
Die Touristen nehmen das Angebot gern an. Schon ein Blick ins Gästebuch zeigt: Durch den Kirchenbesuch wird vor allem die Erinnerung an verstorbene Angehörige wach. „Für meinen liebsten Uropa – ruhe in Frieden“, steht dort ebenso wie „Du bist an einem besseren Ort“. Während sich an diesem sonnigen Tag ringsum die Strände mit Touristen füllen, sitzt eine Frau lange in der Kirchenbank, versunken in Gedanken und Meditation, vielleicht im Gebet. „Ich hätte noch Stunden hier sitzen können“, erzählt sie hinterher. „Hier kann ich mitten im Touristengebiet die Stille genießen.“ Dafür sei die Kirche besonders geeignet, gerade weil sie so spartanisch sei. „Ich dachte, katholische Kirchen seien viel üppiger eingerichtet“, meint die Frau. Ein Phänomen, das Michael Ragg gut verstehen kann: Die Bedürfnisse der Menschen hätten sich geändert, sie bräuchten heute mehr Ruhe. Durch die Reizüberflutung suchten viele Menschen gerade einen schlichten Kontrast zur allgegenwärtigen Bilderflut.
Das bestätigt auch ein Ehepaar aus Berlin, das einige Stunden später den Weg zu Maria Meeresstern findet. „Diese Kirche spricht mit mir“, sagt die Frau zu Michael Ragg. „Sie ist nicht so prunkvoll, hier wird einem nichts übergestülpt.“ Beide sind evangelisch und freuen sich, dass die katholische Wallfahrtskirche offen ist. „Sie ist ein gutes Gegengewicht zur heutigen Zeit“, meinen sie.
Gottesglaube oder Konfession sind egal
Gerade diese Offenheit für andere Konfessionen oder Menschen, die keiner Kirche angehören, ist für Tourismusseelsorgerin Marion von Brechan besonders wichtig. „Egal, ob die Gäste katholisch oder evangelisch, ob sie glaubend oder nichtglaubend sind, das Programm ist für alle interessant“, sagt sie. Sie kümmert sich um drei Kirchen – neben Sellin betreut sie die Stralsunder Kirche Heiligste Dreifaltigkeit sowie in ökumenischer Zusammenarbeit die evangelische St. Marienkirche in Bergen. Während der Saison bietet sie zudem ein umfangreiches Programm an: Tages- oder Stadtpilgertouren durch die Kirchen Stralsunds, bei denen auch viele rein kulturell interessierte Gäste dabei sind. „Letztens meinte ein Teilnehmer, er sei hier der ‚ungläubige Thomas‘. Ich habe ihm gesagt: Kein Problem, wenn Sie etwas über Kirchen erfahren wollen, sind Sie herzlich eingeladen. Dann hat er viele Fragen gestellt, warum wir an Gott glauben – ganz tolle, tief gehende Gespräche“, erzählt die Seelsorgerin.
Die offenen Kirchen, die Bewirtung am Eingang, Ansprechpartner vor Ort: „Die Leute sagen mir, man fühlt sich hier richtig willkommen“, erzählt Marion von Brechan. Und dann, während des Gesprächs, kämen schließlich die Fragen auf, die die Menschen bewegen. Viele schauten nach einem Erstbesuch zwei, drei Tage später nochmals vorbei, weil sie irgendetwas beschäftige – ob der Tod eines Angehörigen oder die Sorge, wie es weitergehe, wenn beispielsweise ein Kind behindert sei. „Ihnen Stärke und Kraft zu geben, ist schon eine besondere Sache.“ Vivian und Michael Ragg haben an diesem Samstag nach der Vorabendmesse „Feierabend“. Als die Gottesdienstbesucher die kleine Wallfahrtskirche verlassen haben, baut Ragg die Stationen wieder auf. Am folgenden Sonntag öffnen sich die Flügeltüren wieder für Besucher, die bei ihrem Spaziergang entlang der Steilküste die Kirche Maria Meeresstern entdecken. Was hier geschieht, ist Evangelisierung durch Offenheit und niederschwellige Angebote. Niemandem wird etwas aufgedrängt, jeder ist willkommen. Oder wie Michael Ragg manchmal zu Gästen sagt, die etwas zögerlich auf die Kirche zukommen: „Kommen Sie herein, der Herr ist schon da.“
Wallfahrtskirche Maria Meeresstern (Waldweg 1, Sellin):
geöffnet von Pfingstmontag bis Oktober täglich 12-18 Uhr
heilige Messe samstags 17 Uhr
Mehr: www.heiliger-bernhard.de; www.erzbistumberlin.de (unter Tourismuspastoral)