Eine schwere Last zu tragen

Norbert Hasse (links) und Pfarrer i.R. Peter Beier mit Unterlagen ihrer Recherche im katholischen Gemeindehaus von Zehdenick. Foto: Andrea von Fournier

In Zehdenick hatte die katholische Gemeinde bis zum Zweiten Weltkrieg Mitglieder, die Sinti oder Roma waren – sie wurden nicht vor der Deportation in die Todeslager geschützt. An sie wird in der Gemeinde nun aktiv erinnert.

„Sie saßen hier vorher friedlich in der Kirchenbank!“, sagt Norbert Hasse und begründet damit sein Interesse, den Schicksalen Zehdenicker Sinti und Roma im zweiten Weltkrieg nachzuspüren. Inzwischen haben die zumeist in Auschwitz ermordeten ehemaligen Mitbürger der Stadt einen Erinnerungsort im Turmraum der katholischen Kirche Mariä Himmelfahrt bekommen: Gerahmt hinter Glas sind ihre Namen, Zeitpunkt der Taufe und Erstkommunion und ihre Lebensdaten, soweit feststellbar, für jeden Besucher sichtbar neben der Eingangstür zu lesen.

Norbert Hasse, stellvertretender Vorsitzender im Kirchenvorstand, und Pfarrer i.R. Peter Beier haben Jahre gesucht, gelesen, per Telefon und Mails kommuniziert, um die Tafel anfertigen lassen zu können. Es war beiden eine Herzensangelegenheit, diese Toten nicht zu vergessen, ihnen eine letzte Ehre und den Nachgeborenen eine Mahnung zu geben.

Artikel eines Heimatforschers als Anstoß

Anstoß für ihre Recherchen war der Artikel des Oranienburger Heimatforschers Hans Biereigel im Oktober 2006 in einer Granseer Tageszeitung. Biereigel war vor der Wende Direktor der Gedenkstätte Konzentrationslager (KZ) Sachsenhausen und ihn treibt diese Thematik bis heute um. Norbert Hasse las den Beitrag und war elektrisiert von einem Satz, den er sich rot angestrichen hat: „Die 55-jährige Katholikin gehörte wie die bereits erwähnten Sinti und Roma zu jenen, die den Weg in den Tod antreten mussten. Am 1. Juli 1943 starb sie an Fleckfieber im so genannten Familienlager von Auschwitz-Birkenau.“ „Eine Katholikin starb in Ausschwitz – ich bin doch auch Katholik!“, habe er spontan gedacht. Die Verfolgung jüdischer Mitmenschen durch die Nationalsozialisten ist vielfach erforscht, Stolpersteine sind verlegt, der Massenmord an ihnen ins Bewusstsein der nachgeborenen Deutschen gerückt worden. Dass auch Sinti und Roma zur Zehdenicker katholischen Gemeinde gehörten und umgebracht wurden, wusste Norbert Hasse damals noch nicht. Sofort fiel ihm ein, dass der frühere Kaplan Peter Beier aufgrund seines geschichtlichen Interesses und seines Lebensalters, er wird Pfingsten 94 Jahre alt, vielleicht auskunftsfähig wäre oder wüsste, wo man Näheres zu den Schicksalen dieser Menschen erfahren könne.

„Er war genau der richtige Mann!“, so Norbert Hasse. Peter Beier, der im Ruhestand in Templin lebt und der dortigen katholischen Kirchengemeinde, zu der neben Templin auch die Gemeinden in Zehdenick, Lychen und Mildenberg gehören, weiter eng verbunden und ehrenamtlich ansprechbar ist, war sofort einverstanden, eine Nachforschung in die Wege zu leiten. Sechs Namen Zehdenicker Sinti und Roma wurden in dem Zeitungsartikel genannt, es gab auch einige Daten als Eckpfeiler, sodass Peter Beier die entsprechenden Kirchenbücher dieser Zeit heranholte und nach Geburts-, Tauf- und Erstkommuniondaten suchte. Er wurde fündig. Nicht nur diese sechs Personen, sondern auch weitere Familien gehörten im untersuchten Zeitraum zur katholischen Stadtgemeinde Zehdenick, einige waren nicht hier getauft oder zur Kommunion gegangen, doch alle in Lager der Nazis deportiert worden.

Der Name der Witwe Anna Rose, deren Leid Norbert Hasse beim Lesen von Biereigels Artikel auf Anhieb berührte, steht ganz oben auf der Gedenktafel. Anders als andere Angehörige ihrer Volksgruppe lebte die als „Arbeiterin“ in den Büchern verzeichnete Frau, 1888 geboren, ab 1919 mit fünf Kindern in einer Wohnung in der Zehdenicker Kampstraße, der heutigen Liebenwalder Straße. Anna Rose und ihre Kinder wurden nach einem Erlass Heinrich Himmlers vom 16. Dezember 1942 im folgenden Jahr deportiert: Peter Beier konnte ihnen und anderen Zehdenickern teilweise Erfassungsnummern aus den Todeslagern zuordnen. Auch ein Ehepaar, das zur evangelischen Gemeinde gehörte, ist auf der Tafel vermerkt, ebenso Zehdenicker, die eventuell keiner Glaubensrichtung angehörten.

Beier fand neben den sechs im Zeitungsartikel erwähnten Personen noch eine weitere. Zuvor gab es Kontakte zur Stadtverwaltung, um in den Archiven Antworten zu suchen. Die Nachforschungen unter Gemeindemitgliedern allerdings waren weniger erfolgreich, obgleich es ältere Mitbürger gab, von denen er sich Erinnerungen und Auskünfte erhoffte.

Gedenktafel löste weitere Nachforschungen aus

Nachdem alle erreichbaren Daten zu den genannten Personen recherchiert worden waren, wurde eine Gedenktafel angefertigt und im Mai 2010 im Rahmen eines feierlichen Gottesdienstes in der Kirche aufgehängt. Was danach geschah, war nicht geplant. Aus Straßburg meldete sich der Arzt und Historiker Raphaël Toledano. Der Franzose befasst sich seit seiner Abiturzeit mit der Thematik der Menschenversuche an KZ-Insassen. Er deckte mit Beharrlichkeit vor fast zehn Jahren einen Skandal an der Straßburger Universität auf, in deren Museum der Rechtsmedizin er Präparate von jüdischen Insassen des nahen KZ Natzweiler-Struthof vermutete. Damit lag er richtig. Die Präparate konnten zugeordnet und bestattet werden. Auch zu den Schicksalen sowjetischer Kriegsgefangener und Sinti und Roma in den KZ forschte Toledano. Er nahm Kontakt zum Zehdenicker Stadtarchiv und zu Peter Beier auf. Durch die Hilfe des französischen Forschers konnten in Zehdenick Lücken geschlossen, Daten zugeordnet oder vervollständigt werden. Er teilte mit, dass Anna Roses Sohn Anton, geboren und getauft 1916 in Zehdenick, eine Odyssee von Misshandlungen, Unterernährung und medizinischen Versuchen von Auschwitz bis nach Dachau erlebte. Dort wurde er im April 1945 befreit. Er überlebte als einziges Familienmitglied. Mit diesem Wissen wurde die Gedenktafel der katholischen Gemeinde verändert und ergänzt. Doch auch jetzt ist sie noch lückenhaft.

Die Berlinerin Renate Harcke recherchierte für die Rosa-Luxemburg- Stiftung in den Erkenntnissen der Zehdenicker. Leonhard Stöcklein, Promotionsstudent der Uni Erlangen-Nürnberg, interessierte sich im Rahmen seiner Arbeit ebenfalls für die Geschichte der Zehdenicker Sinti und Roma. „Beide Personen liehen sich die Akte aus“, erklärt Pfarrer Beier. Man dürfe die dunkle Zeit der Geschichte nicht vergessen, sagt er, der sich als radikalen Pazifisten und Nazigegner sieht. Als Jugendlicher musste auch er in den Krieg: „Das vergesse ich nie!“ Er erinnert sich sehr genau, dass die jüdischen Eltern einer Jugendlichen, die damals auf der anderen Straßenseite wohnte, plötzlich weg und die Jugendliche allein war. Auf die Frage, wo ihre Eltern wären, antwortete sie ihm: „Auf Reisen.“ Eine Reise, von der sie nie wiederkehrten. Doch Tochter Ilse blieb wie durch ein Wunder verschont.

Die Tafel der Zehdenicker Stadtgemeinde kam jüngst wieder in den Fokus, weil Birgit Hoyer, die die Bildungsarbeit im Erzbischöflichen Ordinariat Berlin verantwortet, davon gehört hatte und sich im Frühjahr Orte der Bildung für die Heranwachsenden in ihrem Bereich ansah. Die Zehdenicker sind laut Leonard Stöcklein die einzige katholische Gemeinde in Berlin-Brandenburg, die ihre Verstrickung in die NS-Verbrechen an Sinti und Roma der Gemeinde aufgearbeitet hat. Andere Gemeinden könnten folgen und auch in den Religionsunterricht sollte das Thema Eingang finden.