Geschichten aus St. Hedwig

Foto: Cornelia Klaebe

Sichten, aufbereiten, erfassen, digitalisieren: Ein Archiv zu ordnen, ist viel Arbeit – aber notwendig. Marina Wesner tut das für die Berliner Kathedrale. Dabei fördert sie auch kuriose und anrührende Geschichten zutage.

Marina Wesner durchsucht die graue Archivmappe: „Jahrgang ‘53 ...“ murmelt sie vor sich hin. Dann hat sie gefunden, was sie suchte: „Hier, schauen Sie mal, was da oben drüber steht: Für einen Friedensvertrag mit Gesamtdeutschland.“

Und tatsächlich, über dem Kopf der Rechnung von den Berliner Wasserwerken aus dem August 1952 steht ganz am Rand des Blattes mit Schreibmaschine geschrieben dieses hochpolitische Statement. Die Rechnung für Rohrverlegungen ist nur eines von vielen kuriosen Fundstücken, die die Architektin und Doktorandin der Kunstgeschichte bei ihrer derzeitigen Arbeit entdeckt. Marina Wesner ordnet das Archiv der St. Hedwigs-Kathedrale.

Seit Mitte Februar füllte sich das Büro im Altbau des Bernhard-Lichtenberg-Hauses zunehmend mit Ordnern voller Dokumente, Papierstapeln, Fotos und Plänen. Nun ist die Aufgabe: „Sichten, was da ist, sortieren, die Unterlagen so aufbereiten, dass sie hoffentlich noch lange überdauern, die Funde erfassen und ein Findbuch anlegen, damit die Unterlagen auffindbar sind.

Teile der Unterlagen werde ich dann digitalisieren und den ganzen Arbeitsprozess dokumentieren“, so die Frau, die sich beruflich auf Kirchenbaugeschichte spezialisiert hat und darüber auch ihre Doktorarbeit schreibt.

Der Nachlass von Schwester Stephana

Mit Kirchenbau haben viele der Dokumente ebenfalls zu tun, insbesondere mit dem Umbau der Kathedrale unter Professor Schwippert. Aber auch ganz andere Themenbereiche nehmen viel Raum ein: Im Jahr 1945 beginnt das Archiv, denn was älter ist, ist zum größten Teil im Krieg verbrannt.

In dieser Zeit wirkte Schwester Stephana. Sie war Gemeindeschwester unter Dompropst Bernhard Lichtenberg. In ihrem Nachlass sind etliche Korrespondenzen zu finden, die seelsorglichen oder caritativen Themenbereichen zuzuordnen sind.

St. Hedwig war nach dem Krieg Kontaktstelle

So wurde St. Hedwig nach dem Krieg als Kontaktstelle für Flüchtlinge und Vertriebene genutzt. Davon zeugt eine große Zahl von Briefen, in denen nach dem Verbleib von Verwandten gefragt wird. Manche dieser Dokumente haben Marina Wesner besonders angerührt: „Da war einmal die Bitte, eine Liste mit 130 Kindern, die ihre Eltern suchten, an der Kirchentür auszuhängen und von der Kanzel zu verkünden.“

Aber auch einzelne Schicksale sind hier nachzuvollziehen: So schrieb im April 1945 ein Vater mit der Bitte, seinem Sohn mitzuteilen, dass die Mutter an einem Granatsplitter gestorben sei: „Und ich gehe gleich hinterher. Gott verzeih mir meine Tat“, so die Worte des Verzweifelten. Der beigefügte Brief an den Sohn ist ebenso erhalten wie eine – sich kreuzende – Anfrage eben jenes Ziehsohns mit der Bitte um Auskunft
über den Verbleib der Eltern. Nur ein Beispiel für viele Schicksale, bei denen Marina Wesner die persönliche Dimension ihrer Arbeit mehr als bewusst ist.

Eine besondere Herausforderung ist darüber hinaus aber rein praktischer Natur: „Es ist zum Teil schwierig zu klären, was wohin gehört“, sagt Marina Wesner. Früher waren Dompropst und Dompfarrer dieselbe Person. Erst in den 1980er Jahren wurde die Kathedralgemeinde selbstständig. „Das Erzbischöfliche Ordinariat saß zum Beispiel zu Zeiten des Umbaus der Kathedrale im Lichtenberg-Haus.

Es hatte die Bauleitung für St. Hedwig – gleichzeitig war aber auch das Domkapitel zuständig.“ Dadurch vermischte sich vieles aus Ordinariat, Domkapitel und Hedwigs-Gemeinde. Immerhin, so Marina Wesner, werde man am Ende ihrer Arbeit gezielt auf alle Dokumente zugreifen können: „Denn bisher wusste keiner, was da unten alles liegt.“