Am 1. November ist die „Berliner Kältehilfe“ in eine neue Saison gestartet. Auch in diesem Winter wird sie das Leid vieler Obdachloser lindern. Doch ohne personelle und finanzielle Unterstützung kann sie nur bedingt arbeiten.
Es sind zwei Welten, die da aufeinander stoßen: Auf der einen die Studenten aus gutem Hause, die ehrenamtlich Kartoffeln schälen, Tische abwischen und Brote belegen. Auf der anderen die Männer und wenigen Frauen in zerschlissener Kleidung und mit zerfurchten Gesichtern, die vor der Berliner Bahnhofmission in der Jebensstraße 5 am Zoologischen Garten um Einlass bitten und sich über eine Tasse Tee und einen warmen Schal freuen. Was die beiden Gruppen verbindet? Die einen praktizieren christliche Nächstenliebe, auf die die anderen dringend angewiesen sind.
Und doch bleiben Fragen. Etwa die, warum es so viele Bedürftige ausgerechnet in die kalte Anonymität eines Bahnhofs zieht. „Niemand weiß das so genau“, sagt Florian Hundhammer, der seit Jahren in der Obdachlosenhilfe seiner katholischen Gemeinde engagiert ist. Denn eigentlich fehlt Bahnhöfen genau das, wonach sich die meisten Menschen sehnen: Ruhe, Geborgenheit und einem Ort, an dem Menschen füreinander da sind. Schon als Student ist Hundhammer, Enkelsohn eines früheren bayerischen CSUMinisters, das Leid der Menschen nahe gegangen, sagt der heute 48-Jährige. Einmal, Anfang der 90er Jahre hat er als Student mit Gleichgesinnten auf den Treppen der Berliner Gedächtniskirche demonstrativ eine eisige Nacht im Freien verbracht, um PR-wirksam auf das Leid der Menschen in der Stadt aufmerksam zu machen. Heute, nach einem abgeschlossenen Magisterstudium, arbeitet der Vater einer Tochter als Fundraiser für ein kirchliches Hilfswerk in Süddeutschland.
Alltag und Elend liegen nah beieinander
Doch zurück nach Berlin. An diesem Sonntagvormittag ist es regnerisch und windig kalt, unangenehmes Herbstwetter, bei dem viele Menschen lieber ausschlafen, ein Buch lesen oder warm eingepackt einen Ausflug in die Natur machen. Dinge, die man am Bahnhof Zoo vergeblich sucht. Gnadenlos zieht der Wind durch die Aufgänge zur S-Bahn, wo die Züge im Minutentakt einund ausfahren. Wo kaum ein Fahrgast ahnt, dass nur wenige Meter tiefer Menschen die Nächte in Schlafsäcken verbringen, an Krätze leiden und ihre Notdurft in dunklen Ecken verrichten. Immerhin, es gibt Menschen, die diese Menschen nicht vergessen haben und ihnen beistehen, etwa in der seit 1989 bestehenden „Berliner Kältehilfe“, einem Gemeinschaftsprojekt karitativer Einrichtungen, allen voran der katholischen und evangelischen Kirche, mit dem Ziel, Obdachlose vor dem Kältetod zu bewahren.
Doch das gut Gemeinte hat oft genug auch einen Haken: „Wir können die Probleme unserer Gäste meist nur lindern und nicht lösen“, sagt Ann-Katrin Pirschel, die in der Lehrter Straße 68 wohnungslose Menschen betreut. Mit mehreren Teams kümmert sich die angehende Sozialarbeiterin um Obdachlose, richtet Schlafplätze her und zieht Isomatten ab. Nicht zu vergessen die rauen Mengen Tee und Kaffee, die in der Stadtmission täglich gekocht und ausgeschenkt werden. „Schlimm ist es, wenn wir die Menschen morgens um acht wieder in die Kälte entlassen müssen“, sagt Perschel. Denn eigentlich bräuchten viele eine Rundumbetreuung. Doch das könne man kaum leisten. Auch die Politik sei wenig willens, dafür Mittel bereit zu stellen.
Überall in Berlin gleichen sich in diesen Tagen die Bilder: Menschen, meist osteuropäische Männer zwischen 25 und 55 stehen ab 17 Uhr in langen Schlangen vor Gebäuden und Behelfsunterkünften der Kältehilfe, die „ohne unsere vielen ehrenamtlichen Helfer wohl kaum funktionsfähig wären“, wie Dominikanerpater Max Cappabianca von der Katholischen Studentengemeinde in Berlin-Pankow betont. Auch aus seiner Gemeinde engagieren sich Studenten für Obdachlose. Zurzeit brauchen die Helferteams am Hauptbahnhof und in der Jebensstraße vor allem warme Kleidung, Seife, Duschgel und Handtücher; Sachspenden, die man jederzeit dort abgeben kann. „Berlin ist für den Winter gut gerüstet“, sagt eine Sprecherin der Berliner Sozialverwaltung. Und für viele Russen, Polen und Bulgaren ein Mekka der Hoffnung, wo es, wenn schon keine gut bezahlte Arbeit, doch immerhin viele Pfandflaschen, kostenlose Mahlzeiten, medizinische Grundversorgung und zur Not auch einen Schlafplatz im Warmen gibt.
Anziehungspunkt für Osteuropäer
Zwischen 4000 und 6000 Obdachlose soll es mittlerweile in Berlin geben, die allerdings weder gezählt noch zentral statistisch erfasst werden, und deren Zahl daher niemand so genau kennt. Dabei ist Obdachlosigkeit in Berlin kein neues Problem. „Wie eh und je ist die Stadt ein Anziehungspunkt, vor allem für Osteuropäer“, sagt die Potsdamer Historikerin Jenny Krämer. Schon in den 20er Jahren war Berlin Treffpunkt vieler Kulturen und Religionen, die die Stadt zu dem gemacht haben, was sie heute ist: Ein bunter Hotspot westlicher Lebensart, der eben auch seine Schattenseiten hat.
Seit 2010 habe sich die Zahl der Obdachlosen in der Hauptstadt fast verdreifacht, sagen Wohlfahrtsverbände, ohne dass ihnen jemand widerspricht. Und seit mehr als hundert Jahren kümmert sich die Stadtmission in der Lehrter Straße um Menschen, die ihre Not mit Drogen, Alkohol und Tagträumereien betäuben. Ohne das Netz aus ehrenamtlichen Helfern wären sie verloren, würden wohl irgendwann tot in einem Gebüsch oder U-Bahnschacht liegen, wie es in Moskau oder New York in den Wintermonaten nahezu täglich passiert. Doch in Berlin, in tiefster Diaspora, sind christliche Werte weiter gefragt und viele Menschen nicht bereit, diese Zustände zu dulden. Erst vor wenigen Wochen bekamen die Mitarbeiter der Bahnhofsmission neue Westen gestiftet, hellblau und aus wetterfestem Stoff, in denen man im Sommer nicht schwitzt und im Winter nicht frieren soll.