Raus aus der eigenen Blase

Hansjörg Günther ist seit November Vorsitzender des Ökumenischen Rates Berlin-Brandenburg (ÖRBB). Gemeinsam mit ÖRBB-Geschäftsführer Hans-Joachim Ditz äußert er sich zu ökumenischen Fortschritten und zu Hindernissen für ein lebendiges Miteinander der Kirchen.

Sehen Sie eher resigniert oder hoffnungsvoll auf die Ökumene im Territorium des Erzbistums Berlin? Ist das Glas aus Ihrer Sicht halb leer oder halb voll?

Günther: Ich treffe auf ökumenische Partner, die einander auf Augenhöhe begegnen und ein großes Interesse aneinander haben. Das schließt auch die ein, die wir lange nicht so im Blick hatten, wenn wir über Ökumene sprachen, zum Beispiel die neuapostolische Kirche oder die Kirche der Siebenten-Tags-Adventisten. Deshalb sage ich: Das Glas ist für mich dreiviertel voll.

Ditz: Das sehe ich auch so. Seit ich 2006 in der Ökumene zu arbeiten begann, ist einiges passiert. Vor allem ist Vertrauen gewachsen. Die Adventisten haben mit dieser Einschätzung ihren Aufnahmeantrag als Vollmitglied begründet. Die neuapostolische Kirche hat 2012 einen Katechismus herausgegeben. Neu darin ist, dass sie die Taufe und die Ämterstrukturen der anderen Mitgliedskirchen anerkennen.
Es ist schön zu erleben, wie sich hier eine Sekte zu einer der engagiertesten und verlässlichsten Mitgliedskirchen entwickelt hat. Allen Kirchen bläst der Wind entgegen. Die Feinheiten der Unterschiede verlieren an Bedeutung in dem Maße, in dem wir uns auf das, besser: auf den besinnen, der uns eint: Jesus Christus. Das Bewusstsein dafür wird immer stärker. Wo große Steine im Weg lagen, wird vieles möglich.

Als Sie in den ÖRBB-Vorsitz gewählt wurden, waren Sie erst wenige Wochen Leiter der Servicestelle Ökumene im Erzbistum. Welche ökumenische Erfahrung hat Sie besonders geprägt?

Günther: Als Verantwortlicher für Personal und für die Priesterausbildung war ich immer schon auch mit Ökumene beschäftigt. Während meines Theologiestudiums war ich ein halbes Jahr lang in Tübingen, vor allem an der evangelischen Fakultät, bei Theologen wie Moltmann und Jüngel. Beide Fakultäten waren unter einem Dach. Wir haben Hörsäle und die Bibliothek gemeinsam genutzt. Das habe ich bis heute als schönes Bild vor Augen. In der Pastoral habe ich später gelernt, wie wichtig Begegnungen für die Ökumene sind. Sie lebt davon, dass Menschen sich dafür interessieren und auf andere zugehen.
Auch bei meiner Promotion in christlicher Gesellschaftslehre war ich immer mit Fragen konfrontiert, die den eigenen Horizont übersteigen. Mir geht es vor allem darum, dass wir Christen den Blick auf unseren gemeinsamen Auftrag in der Welt richten. Wenn sich – jüngsten Erhebungen zufolge – nur noch knapp vierzig Prozent der deutschen Bevölkerung zum christlichen Glauben bekennt, sollten wir die Zeit nicht mit Grabenkämpfen vergeuden. Ich bin auch für den christlich-jüdischen Dialog verantwortlich. Auch da steht der gemeinsame Auftrag in der Welt im Vordergrund.

Wie kann man Christen für den ökumenischen Dialog gewinnen, die bisher eher desinteressiert sind?

Günther: Das wichtigste scheint mir, die Gottesfrage wach zu halten, darüber zu sprechen, welche Hoffnung wir haben und uns nicht vom Dunkel der Welt erfassen zu lassen. Das geschieht vor allem durchs Tun, nicht so sehr durchs Reden. Besonders schwierig ist es, Jüngere für ein Engagement zu gewinnen. Ähnlich nehme ich das aber auch in der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit wahr oder im Verein vom Heiligen Land, dessen Diözesanvorsitzender ich bin. Es ist auch in der Politik spürbar.

Ditz: Ich sehe aber auch, dass es bei jungen Menschen ganz eigene Fragestellungen gibt. Großen Wert auf die Unterscheidung der Konfessionen zu legen, ist für sie gar nicht mehr verständlich. Sie gehen gemeinsame ökumenische Wege, unabhängig von ökumenischen Dokumenten. Ein Beispiel sind die Lobpreis-Gottesdiensten, die vorwiegend junge, charismatisch geprägte Menschen verschiedener Konfessionen in Berlin seit einiger Zeit feiern. Sie leben vor, zuerst auf das zu schauen, was wir schon miteinander tun können. Der „Gebetstag Eins“ ist dafür auch ein sehr gelungenes Beispiel. Es wird dort kein Einheitsbrei angerührt. Die Unterschiedlichkeit der Traditionen bleibt erhalten und wird gewertschätzt. Es wird deutlich: Kirche ist so vielfältig wie die Menschen und bietet unterschiedlichste Andockmöglichkeiten.

Mit Ihnen beiden sitzen nun zwei Katholiken an Schaltstellen des ÖRBB. Wurde das von einigen Mitgliedern auch als Problem wahrgenommen?

Günther: Nein. Traditionell sind im ÖRBB Evangelisch-Landeskirchliche, Katholiken, Freikirchen und Orthodoxe auf allen Leitungsebenen vertreten. Unter den Stellvertretern, mit denen ich als Vorsitzender ja für die nächsten drei Jahre eng zusammenarbeite, sind die anderen drei Richtungen präsent. Und im Ratsausschuss – neben dem Vorstand das zweite wichtige Gremium – hat die katholische Kirche nicht den Vorsitz.

Ditz: Ich bin schon lange Geschäftsführer. Auch mir vertraut man, dass ich als Katholik im Sinne aller Mitgliedskirchen arbeite.

In Berlin sind 33 Kirchen vertreten. Manche bringen die ökumenischen Konflikte ihrer Ursprungsregionen mit. Wie geht man im ÖRBB damit um?

Günther: Ich sehe es als eine Aufgabe für uns, in den Konflikten, die geflüchtete Christen mitbringen, zu vermitteln. Manchmal spielen auch Sprachprobleme mit hinein. Auch hier ist die persönliche Beziehungsebene ausschlaggebend. Ich möchte auf alle zugehen. Unsere Gesellschaft wird nicht besser, wenn wir dies nicht tun. Das gilt auch für Konflikte mit Muslimen. Das Signal, das wir geben sollten: Wir wissen um die Zumutungen für euch, aber bitte nehmt respektvoll zur Kenntnis, dass wir in diesem Land, das eure neue Heimat werden soll, respektvoll miteinander umgehen.

Ist der Synodale Weg Ihrer Wahrnehmung nach eher förderlich für die Ökumene oder befürchten Sie ökumenische Komplikationen, beispielsweise durch das Thema der Weihe von Frauen?

Günther: Synodalität ist eine Haltung. Dazu gehört, kein Thema auszusparen, beim Synodalen Weg in Deutschland ebenso wie im weltweiten Prozess. Über bestimmte Fragen müssen wir reden, wir dürfen keine Konfliktlinie aussparen. Wenn wir dann zu Entscheidungen kommen, müssen wir uns auch die Konsequenzen für andere Kirchen bewusst machen. Die Entscheidungen sollten erst im Laufe eines Geist gewirkten Prozesses fallen. Wenn man tatsächlich Geist gewirkt synodal ringen will, muss man abwarten, was der Geist wirkt.

Ditz: Ich habe im ÖRBB noch nie erlebt, dass interne Konflikte einer Mitgliedskirche zu kontroversen Diskussionen führten. Das Miteinander ist von Respekt geprägt. Man kommeniert nicht laufende Prozesse anderer Kirchen, und schon gar nicht übt man Druck aus und droht mit Konsequenzen, wenn Beschlüsse nicht in bestimmter Weise erfolgen. Zum Beispiel nimmt man zur Kenntnis, wenn die evangelisch-lutherische Kirche die Ehe für alle beschließt und kommentiert es nicht. Vor 20 Jahren war das noch anders.

Heute können wir Differenzen gut miteinander aushalten. Wir haben gelernt, uns darüber nicht mehr zu streiten oder uns gar gegenseitig zu verdammen. Dahin will niemand zurück. Man fühlt mit den anderen, die gerade in Schwierigkeiten sind. Die Methodisten zerreißt es gerade in der Frage der Homosexualität. Es gibt keine Ökumene der Schadenfreude mehr, wenn es sie denn je gegeben hat.

Worin liegt ökumenisch für sie derzeit die größte Hoffnung?

Günther: Ich nehme wahr, dass das Augenmerk in der Ökumene oft sehr stark auf der Gemeinsamkeit bei Eucharistie und Abendmahl liegt. Die traditionellen Unterschiede zwischen den Kirchen sind da sehr groß. Dass etwa ein griechisch-orthodoxer Priester und ein Adventist gemeinsam Abendmahl feiern, ist derzeit nicht vorstellbar. Wir sollten durchaus das theologische Papier „Gemeinsam am Tisch des Herrn“ stärker rezipieren und ins Gespräch bringen.

Zugleich sollten wir aber vorangehen in den Bereichen, wo wir längst gemeinsam handeln könnten. In der Verwaltung zum Beispiel. Es gäbe so viele Ansatzpunkte, wo wir unsere konfessionellen Blasen verlassen könnten, angefangen bei schlichten Begegnungen – einfach mal die Nachbargemeinde zum Grillen einladen.

Ditz: Mir gibt Hoffnung, dass wir in wachsendem Maße unsere alten kontroverstheologischen Positionen aufgeben. Die sind interessierter Neugier gewichen. Es freut mich, die Position meiner Geschwister kennenzulernen, auch wenn mir nicht alles gefällt. Ökumene ist auch ein Korrektiv. Wie in einer Ehe oder Freundschaft ist es gut, Partner zu haben, die einem sagen, wenn man komisch wird, wenn man sich zu sehr in konfessionellen Wegen versteigt.

Günther: Kirche darf nie Selbstzweck sein. Als Christen sollten wir wissen, was die Menschen in unserem Sozialraum glauben, hoffen und empfinden. Wir sollten uns um Antworten bemühen, die ins Herz gehen. Darin wird sich Ökumene bewähren. Das Interesse am Glauben zu entfachen, ist neben Gottesdienst, Gebet, karitativem und diakonalem Dienst Aufgabe der Kirche. Darauf das Augenmerk zu richten, kann helfen, Rückzugstendenzen zu überwinden, zu denen wir in schwierigen Zeiten neigen.