„Das Leben wird vorwärts gelebt und rückwärts verstanden.“ Jesuitenpater Klaus Mertes setzte den Gedanken von Søren Kierkegaard an den Anfang seines Impulses im ersten Nikodemus-Gespräch in diesem Jahr. Das Thema: „Blick nach vorne.“ Das Bild des Ruderers vor Augen formulierte Mertes: „Wir gehen nicht, die Zukunft vor uns und die Vergangenheit hinter uns im Rücken, sondern umgekehrt: Was wir sehen, ist die Vergangenheit und was wir nicht sehen, ist die Zukunft.“
Die Bankreihen in der Gedenkkirche Maria Regina Martyrum waren vergangenen Freitagabend gut gefüllt. Die von Canisius-Kolleg, Diözesanrat, Katholischer Akademie und Geistlicher Begleitung des Pastoralen Prozesses „Wo Glauben Raum gewinnt“ veranstalteten Nikodemus-Gespräche verstehen sich als geistliches Gespräch. Sie bieten einen Freiraum, um die Zukunft der Kirche im Erzbistum Berlin neu zu denken und dem Pastoralen Prozess „Wo Glauben Raum gewinnt“ geistliche wie geistige Impulse zu geben. Als Impulsgeber kam diesmal Pater Klaus Mertes SJ. Er arbeitete lange Jahre als Rektor des Canisius-Kollegs in Berlin. Anfang 2010 brachte er die Aufarbeitung des Missbrauchsskandals in der katholischen Kirche ins Rollen. Heute ist der 62-Jährige Direktor des Jesuiten-Kollegs in St. Blasien im Südschwarzwald.
Wie nach vorne blicken?
Im ersten Teil seines Impulses setzte sich Pater Mertes mit der Begrifflichkeit „Blick nach vorne“ auseinander. Ihm zufolge liegt der Blick zurück in die Vergangenheit weit mehr in den Möglichkeiten des Menschen als der Blick nach vorn in die Zukunft. Das Zurückblicken werde daher zur Voraussetzung für den Blick nach vorne. Allerdings sieht Mertes die Gefahr, im Zurückblicken hängen zu bleiben und sich darin zu verlieren. Er erinnerte an Maria von Magdala, die sich von ihrem Blick ins Grab nicht lösen konnte, es nicht schaffte, sich umzudrehen, das Grab als leer zu akzeptieren und sich vom Thema Grab abzuwenden hin zum Gedanken der Auferstehung. „Geschichte geht weiter! Geschichte besteht nicht nur darin, immer im Blick zurück zu bleiben, sondern es ist der Blick zurück, der mich irgendwann dann auch dazu auffordert, nicht mehr zurückzublicken“, postulierte Mertes.
Im Modus der Unterscheidung der Geister spürte der Jesuitenpater den Versuchungen nach, die im Umgang mit dem Blick in die Vergangenheit auftreten können. Zum Beispiel die Versuchung, einen alles verdrängenden Schlussstrich unter die Vergangenheit ziehen zu wollen. Mertes sprach von der Verantwortung desjenigen, dem die Augen geöffnet wurden, diese nicht mehr zu schließen. „Es ist nicht mehr möglich, Dinge nicht zu sehen, die man vorher tatsächlich mit einer gewissen Unschuld nicht gesehen hat. Und es ist gefährlich, wieder in die alte Unschuld zurückzukehren, die meint, sich leisten zu dürfen, Dinge nicht zu sehen, die man früher tatsächlich unverschuldet nicht gesehen hat.“ Mertes warnte vor der Täuschung des Bösen und der Gefahr, statt Gerechtigkeit Selbstgerechtigkeit walten zu lassen und damit nicht mehr wachsam zu bleiben: „Das Böse versteckt sich hinter dem Anschein des Guten.“
Pater Mertes Überlegungen zur Begrifflichkeit „Blick nach vorne“ gipfelten in der Schlussfolgerung, die er in das Bild des Wanderers kleidete: „Ich gehe nach vorne mit dem, was ich gehört und gesehen habe. Ich gehe mit dem Rucksack der Erfahrungen nach vorne und habe mit dem Rucksack der Erfahrungen, zugleich Kriterien, Fragestellungen, auf die ich genau achte.“ Mertes präsentierte damit eine Methode, wie man verantwortungsvoll den „Blick nach vorne“ richten kann: „mit dem Rucksack der Erfahrungen auf dem Rücken, die Erfahrungen, die ich auf dem Weg mache, neu zu sehen, und mit Hilfe dessen, was ich inzwischen an Perspektiven gewonnen habe, geistlich zu deuten.“
Denkimpulse für die Zukunft der Kirche
Diese Methode setzte er im zweiten Teil seines Impulses um. Sein Rucksack war dabei gefüllt mit den Erfahrungen von 2010, der Aufarbeitung des Missbrauchsskandals in der katholischen Kirche: „mit dem Wissen darum, wie schrecklich Vertrauen missbraucht werden kann, gerade gegenüber denjenigen, die darauf angewiesen sind und sich ganz hineingeben“. Mit diesem Erfahrungsschatz betrachtete Mertes sechs „ganz eigene, persönliche“ Wegerfahrungen der näheren Vergangenheit. Er deutete sie geistlich und formulierte daraus Denkimpulse für die Zukunft der Kirche.
„Verlangen wir Preise für Zugehörigkeit? Und wenn ja, welche Preise? Welche Preise sind legitim und welche Preise sind nicht legitim?“ lautete der erste Denkimpuls, den der Jesuitenpater aus einer Internats-Erfahrung folgerte. Es ging dabei um die Zugehörigkeit zu Gruppen und um den Preis, den Gruppen verlangen, Mitglied werden dürfen. Mertes beobachtete darin eine Struktur: „Die Zugehörigkeit, die ich erlange, indem ich mich einem demütigenden Ritual unterwerfe, ermöglicht es mir selbst, Macht auszuüben“, fasste er diese zusammen.
„Wie sprechen wir? Wie klingt das, was ich sage, wenn ich es mit den Ohren derjenigen höre, die selbst Betroffene sind?“ Diese Frage stets mitzudenken, sollte nach Mertes ein Grundsatz für das „verkündende Sprechen“ bilden, warb er eindringlich, für eine tiefe Sensibilität in der Verkündigung. Denn: Es sollte einem klar sein, wenn jedes dritte Mädchen und jeder siebte Junge sexuelle Gewalt erfahren hat, dass sich immer auch Betroffene unter den Zuhörenden befänden. Aus einer persönlichen Erfahrung schloss er: „Wir reden, wenn wir als Kirche über Personen reden, niemals nur über diejenigen, die draußen sitzen, sondern wir reden über uns selbst.“
„Wo haben wir Freunde als Kirche? Und wo sind schon Freunde da, die uns begleiten?“ Aus einer persönlichen ökumenischen Erfahrung im Kontext der Aufarbeitung von sexualisierter Gewalt folgerte Mertes, nach Freunden in Gesellschaft und religiösem Leben Ausschau zu halten. Freunde zeigten einem, nicht alleine auf dem Weg zu sein. Dies zu spüren, werde „in dem Moment möglich, in dem ich mich öffne für die Freunde, die sich mir mit ihren Erfahrungen anvertrauen, was zur Voraussetzung hat, dass ich selbst auch von meinen Erfahrungen spreche.“
Mertes sprach zudem über Erfahrungen zu Nähe und Distanz – „Es gibt eine Distanz, die eine bestimmte Form von Nähe überhaupt erst ermöglicht. Und sie steht im Gegensatz zu jener Distanz, die Angst vor der Nähe hat, weil die Nähe immer nur als Selbstgefährdung erlebt wird.“ –, über spirituellen Missbrauch – „Wo sind die Orte, an denen ich mich kritisch auseinandersetze mit Menschen, die mit religiösem Autoritätsanspruch auftreten?“ – und über Betroffene, die Gewalt und Verletzungen von Personen aus dem System Kirche erfahren haben, und jetzt der Kirche verzeihen möchten: „Wie kann ich den Betroffenen entgegenkommen, die den Wunsch nach Versöhnung mit der Kirche haben? Wie kann diese Versöhnung ihren Ort finden?“
Eine hörende Kirche
Im anschließenden Austausch berichtete Pater Mertes über weitere Erfahrungen, die er seit Beginn der Aufarbeitung der Missbrauchsproblematik in der Kirche gemacht hat. Auch dabei zog er Schlüsse, die für den „Blick nach vorn“ hilfreich sein können. Aus der Schwierigkeit, das Schweigen zu durchbrechen, schließt er auf die Schwierigkeit des Hörens der Allgemeinheit. „Wir neigen alle dazu, mich eingeschlossen, zu meinen, dass wir verstehen, was der andere sagt. Aber gerade deswegen verstehen wir den anderen nicht. Es durchbrechen ja immer wieder Leute das Schweigen“, analysierte Mertens, „wir hören es nur nicht.“ Erst eine hörende Kirche, könne eine missionarische Kirche sein, ist er überzeugt. Der Schritt in die Mission beginne nicht dadurch, in dem man redend, sondern in dem man hörend in die Welt gehe. „Nur wenn ich die Frage, die mir gestellt wird, auch höre, kann ich antworten. Und dann habe ich plötzlich ein ,Publikum‘ vor mir, das ich nie erreichen würde, auch wenn ich alle möglichen Hochglanz-Broschüren herausgebe.“
Bei den Nikodemus-Gesprächen ist es üblich, dass vor dem Abschlussgebet eine Zuhörerin, ein Zuhörer eine kurze Rückmeldung gibt, über das, was sie, was ihn an diesem Abend bewegt hat. Diesmal ergriff Antje Markfort, die stellvertretende Vorsitzende des Diözesanrats, das Wort. Sie bewegte insbesondere das Thema Missbrauch, das mit Pater Mertes ganz eng verbunden ist. Dass Opfer von ihren Erfahrungen berichteten und nicht gehört wurden, bewege sie sehr. Und, dass in ihrem Pastoralen Raum Reinickendorf-Nord die Zeit fehlte, bei der Ausarbeitung des Pastoralkonzepts ein Schutzkonzept gegen sexualisierte Gewalt zu entwickeln. Aus dieser Erfahrung heraus appelliert sie an alle Beteiligten im Pastoralen Prozess: „Das müssen wir ernst nehmen, da müssen wir tätig werden – bei allem Alltäglichen, was uns sonst beschäftigt!“