„Kündet allen in der Not, fasset Mut und habt Vertrauen: Bald wird kommen unser Gott; herrlich werdet ihr ihn schauen.“ Mit dem adventlichen Lied aus dem Gotteslob begann das fünfte Nikodemus-Gespräch – passend zum Thema des Abends. Denn über dem geistlichen Austausch in der Gedenkkirche Maria Regina Martyrum stand diesmal die Frage: „Die Franziskus-Revolution: eine arme Kirche der Armen im Erzbistum Berlin?“ Wie fremd dieses vertraute Kirchenlied allerdings sein kann, sollte sich in den anderthalb Stunden am Montagabend zeigen: „Allen Menschen wird zuteil Gottes Heil!“
Die lose Gesprächsreihe der Nikodemus-Gespräche liefert Gedankenanstöße für den Pastoralen Prozess „Wo Glauben Raum gewinnt“. Diesmal gab es davon reichlich, denn die Veranstalter – die Katholische Akademie, der Diözesanrat, das Canisius-Kolleg und die Geistliche Begleitung des Pastoralen Prozesses – hatten Professorin Dr. Ulrike Kostka als Impulsgeberin geladen. Die Direktorin des Caritasverbandes für das Erzbistum Berlin bezeichnet sich selbst gerne als Praktikerin.
Zwei Seiten einer Medaille
Die Caritasdirektorin begann ihren Impuls mit einem Blick auf Vinzenz von Paul, und damit auf einen französischen Priester, der es sich zu Beginn des 17. Jahrhunderts am königlichen Hof bequem einrichten wollte. Doch die Armen auf dem Land und die geschundenen Galeeren-Sklaven, mit denen er sich beschäftigen musste, lehrten dem Kleriker schließlich etwas anderes. „Vinzenz von Paul spürte: sein Ziel, sich ein gutes Leben als Priester zu machen, und das Leid dieser Menschen, das passt nicht zusammen“, so Kostka. Als Konsequenz daraus habe er unter anderem die ersten Caritas-Konferenzen gegründet. Vinzenz von Paul sei davon überzeugt gewesen, „dass der Glaube immer untrennbar mit der Tat verbunden ist, dass sie zwei Seiten einer Medaille sind“.
Mit 16 Jahren sei sie zum ersten Mal Vinzenz von Paul begegnet, gab Kostka einen sehr persönlichen Einblick in ihr Leben. Im Kloster der „Barmherzigen Schwestern vom heiligen Vinzenz von Paul“ in Hildesheim sah sie ein Bild des französischen Priesters und daneben dessen Forderung: „Die Straße ist eure Klausur“. Ein Wort, das sie nicht mehr loslassen sollte und das sie lange nicht verstand. Erst als sie vor fünf Jahren nach Berlin kam, konnte sie es für ihr Leben dechiffrieren: „Man braucht nur einmal die U 6 von der Scharnweberstraße bis nach Stadtmitte zu fahren und man begegnet dem Wohnungslosen, der reichen Tussi, der magersüchtigen 15-Jährigen, dem 3-Jährigen Migrantenkind, dem Besoffenen.“
Was Armut in Berlin bedeutet, führte die Caritasdirektorin den Anwesenden mit harten Fakten vor Augen: „Allein in dieser Nacht schlafen da draußen in der Kälte mindestens 2.000 Menschen. Über 3.000 Männer und Frauen schlafen in Turnhallen und 20.000 in Notunterkünften.“ Sie sprach von verschiedenen Formen der Armut, von materieller Armut, von Wertschätzungsarmut, von Beziehungsarmut. So zeige sich auch in Vorpommern und Brandenburg ein anderes Gesicht der Armut als in der Großstadt Berlin: „Vorpommersche Armut kann heißen: man hat die Wende nicht gut überstanden und findet sich nun am Rande eines Dorfes in einer Messi-Wohnung als Langzeitalkoholiker wieder. In Brandenburg haben wir zum Beispiel immer mehr Menschen, die sich den Weg zum Arzt nicht mehr leisten können.“
Armut sehen lernen
Mit einer Erfahrung aus ihrer Kindheit und Jugend, die Kostka am beschaulichen Stadtrand von Celle verlebte, schlug die Caritasdirektorin einen Bogen zum Pastoralen Prozess „Wo Glauben Raum gewinnt“ und damit zur sich bietenden Chance, die Frage nach karitativem Engagement in Gemeinden neu zu stellen. In ihrer Kindheit und Jugend sei ihr Armut fremd geblieben. Sie habe nicht gewusst, was ein Armer ist, stellt sie rückblickend fest. „Wir waren zwar sehr aktiv für die Dritte Welt, aber die Armut in unserer Gemeinde, in unserer Umgebung, die haben wir nicht sehen gelernt.“ Übertragen auf die Situation von Pfarreien heute heiße das: „Armut muss man erst einmal sehen lernen.“ Darin sieht sie eine zentrale Herausforderung für Gemeinden und Pastorale Räume im Pastoralen Prozess: „Gehen sie mal um 11 Uhr zu Kaufland. Da erleben sie alte Menschen, die versuchen, noch ein wenig Gemeinschaft zu leben. Wir müssten unseren Kirchturm mitnehmen und genau dort aufstellen.“
Armut sehen zu lernen, das bedeute, über die Ränder der Kirchengemeinde hinauszugehen und sich zu fragen: „Wofür sind wir eigentlich da?“ „Sicher nicht allein dafür, zu klären, wer der nächste Pfarrgemeinderatsvorsitzende wird“, gab Kostka selbst die Antwort, „sondern um den tollsten Auftrag der Welt zu erfüllen: Kündet allen in der Not: allen wird Gottes Heil zu teil.“ Allerdings warnte sie davor, sich als Gemeinde zu überfordern. Sie rät zur Tiefenentspannung statt zu unerfüllbaren To-Do-Listen: „Eine kleine Aktion, bei der ich erlebe, da passiert etwas, ist allemal besser als große Pläne.“ Um wirksam helfen zu können, riet sie, sich auch für Menschen zu öffnen, die der Gemeinde fern stehen, auch für jene, die nicht katholisch sind, sich jedoch für Arme einsetzen möchten. „Vertrauen wir auf den göttlichen Funken, der in jedem Menschen inne wohnt“, fasst sie den Sendungsbegriff weit.
Eine arme Kirche der Armen
Im sich anschließenden Austausch rief eine Frau dazu auf, sich in Pastoralen Räumen gut zu vernetzen, um auch dort der Armut und Not begegnen zu können, wo kaum finanzielle Ressourcen und ehrenamtliche Kräfte vorhanden sind. Eine andere Frau gab zu bedenken: „Sollten wir nicht, bevor wir helfen, zuerst wie Jesus fragen: ,Was willst du, dass ich dir tue?‘“ Ein Mann warnte davor, all jene abzuqualifizieren, die nach außen hin nicht helfen wollten. Man wisse ja nicht, ob sie vielleicht durch Spenden viel Gutes tun. Ein Pfarrer zeigte sich enttäuscht von einer Pfarrei, die sich dem Anliegen verschloss, Räumlichkeiten für die Kältehilfe zur Verfügung zu stellen. Ein Mann bedauerte es, dass von der Franziskus-Revolution in den Kirchengemeinden nur sehr wenig zu spüren sei. „Wir haben die seltene Gelegenheit, dass der Papst revolutionärer ist als die Basis. Dafür müssten wir dankbar sein.“
Für Professorin Ulrike Kostka zeigt sich die Revolution von Papst Franziskus für eine arme Kirche der Armen bildhaft in der Romwallfahrt von 6.000 benachteiligten Menschen, die zum Abschluss des Jahres der Barmherzigkeit stattfand. Im Petersdom, im Zentrum der Weltkirche, feierten Obdachlose, Arme und Ausgegrenzte gemeinsam mit dem Papst die heilige Messe, während die hohen kirchlichen Würdenträger des Vatikans draußen bleiben mussten. „Papst Franziskus zeigt uns damit: Es geht nicht allein darum, den Armen zu helfen, sondern wir sollen die Armen in unsere Mitte holen“, beschrieb Kostka Franziskus‘ „arme Kirche der Armen“. Keine leichte Aufgabe, gab sie zu. Schon allein die Sprache der Kirche sei ein Problem für bildungsferne Menschen. „Warum können wir von Gott nicht normal erzählen?“ fragte sie deshalb auch provokativ. „Wir müssen doch Zugang zu unserer Botschaft schaffen!“ Die Caritasdirektorin gab daher den Kirchengemeinden im Pastoralen Prozess folgende Frage mit auf den Weg: „Wie schaffen wir es, dass sich in unseren Gemeinden auch arme Menschen wohl fühlen?“