Schweigend und mit gebücktem Kopf gehen die 16 Frauen im Kreis von Stuhl zu Stuhl. Immer wieder bleiben sie stehen und lesen, was vor ihnen auf der Sitzfläche ausliegt. Schritt für Schritt erschließen sie sich so die biblische Geschichte von der Hochzeit zu Kana (Joh 2,1-12). Am Ende des Bibelwanderns geht jede der Frauen zu dem Vers, der sie besonders angesprochen hat.
„Meine Stunde ist noch nicht gekommen“, liest Marija vor und meint: „Das heißt für mich: alles braucht seine Zeit im Leben.“ Mit dem Vers „Was er euch sagt, das tut“ geht Rita in die Tiefe: „Auf uns bezogen, bedeutet das doch: Habt einfach mal Vertrauen!“ Kita-Leiterin Claudia Tysiac findet sich in der Aussage „Sie haben keinen Wein mehr“ wieder: „In diesen Wochen, wenn Eltern mich nach einem Krippenplatz fragen, stehe auch ich mit leeren Händen da: Ich habe zwar eine Krippe aber keinen Platz mehr frei.“
Die Erzieherinnen und Heilerziehungspflegerinnen, die Wirtschaftskräfte, die Köchin und eine Praktikantin der katholischen Kita St. Clara in Berlin-Neukölln haben sich im Gymnastikraum in der obersten Etage der Einrichtung versammelt. Im Haus herrscht an diesem Donnerstag in der Fastenzeit eine ungewohnte Stille. Die fast 60 Kinder, die normalerweise die Kita St. Clara mit Leben erfüllen, sind heute zuhause geblieben. Denn das Team um Tysiac absolviert eine ganztägige Religiöse Fortbildung. Die Frauen haben Prälat Stefan Dybowski von der Stabsstelle „Wo Glauben Raum gewinnt“ eingeladen, sie durch den Tag zu führen.
„Wir machen das zum ersten Mal“, erklärt Tysiac. Fachliche Fortbildungen absolvierten die Beschäftigten zwar reichlich, auch für religionspädagogische Inhalte. Allerdings nehmen diese in der Regel allein die Arbeit mit den Kindern in den Blick. Bei der Religiösen Fortbildung stehe diese nicht an erster Stelle, meint die Kita-Leiterin. „Das Spirituelle, die Frage, wieso sind wir eine katholisch-christliche Einrichtung, das kommt in unserem Alltag oft zu kurz. Wir möchten deshalb dieses Mal etwas Gutes für uns Beschäftigte tun, Kraft schöpfen, für die Arbeit, die wir machen.“
Religion für den Alltag
„Für Euch“ – zwei Worte gibt Prälat Dybowski in der gemeinsamen Messfeier zu Beginn der Fortbildung der Gruppe mit auf den Weg durch den Tag. Am Vormittag greift er dann gleich dreimal zur Bibel. Neben der Hochzeit zu Kana spricht er über den Rangstreit der Jünger (Mt 18,1-5) und die Segnung der Kinder (Mk 10,13-16). Immer wieder fragt der Geistliche nach dem Bezug auf den Arbeitsalltag in der Kita. „Wo kann Segen im Alltag passieren?“, richtet er sich beispielsweise an die Runde und übersetzt das lateinische Wort für Segen, benedicere, mit: „dem anderen etwas Gutes sagen“. „Wenn ich meinen Arm um jemanden, meine Hand auf den Kopf eines anderen lege, dann wird Segen erlebbar. Aber auch, wenn ich mich hinter jemanden stelle, indem ich zum Beispiel sage, dass ich für ihn meine Hand ins Feuer lege.“ Die Teilnehmerinnen reden ganz offen über Achtsamkeit und Wertschätzung, darüber andere zu tragen und selbst getragen zu werden.
Ähnlich schlägt Dybowski einen Bogen von Kana der Zeit Jesu in die Kita St. Clara der Gegenwart. Der diskrete Umgang Marias mit der Panne vom ausgehenden Wein wird in seinen Worten zum Beispiel für Aufmerksamkeit und Diskretion, die Unmöglichkeit, aus Wasser Wein zu machen, wird zur alltäglichen Erfahrung, an die eigenen Grenzen zu stoßen, die Verwandlung von Wasser in Wein wird zum Vorbild, etwas Alltägliches in etwas Besonderes verwandeln zu können. „Und plötzlich ist diese Geschichte vor Ort erlebbar, hier, in dieser Einrichtung.“
Am Nachmittag stellt Dybowski die Frage nach der Seele des Hauses: was macht die Einrichtung aus? Wie muss sie gestaltet und gelebt werden, damit die Eltern gerne ihre Kinder vorbeibringen und sich die Mädchen und Jungen wohlfühlen? Wie kann man im Team füreinander Seele sein? Er fragt nach, wie es gelingen kann, seinen Gegenüber und insbesondere die Kinder großzumachen, ihr Selbstbewusstsein zu stärken. Er spricht von Empathie, Freiheit, Vergebung und Versöhnung.
Etwas für die Seele
Was Prälat Dybowski immer wieder deutlich macht: „Religion ist nicht nur etwas, was bei besonderen Anlässen in unseren Kirchen zum Tragen kommt, sondern sie ist ganz konkret im Alltag erlebbar und lebbar.“ Als begnadeter Geschichtenerzähler vermittelt er diese Botschaft in einer Sprache, die die gesamte Belegschaft berührt, Christinnen wie Nichtchristinnen, kirchlich aktive wie glaubensferne Mitarbeiterinnen. Er macht deutlich, die biblischen Texte sind keine Botschaften eines fernen Altertums, sondern bieten auch heute konkrete Orientierung.
Eine solche Religiöse Fortbildung, die Zeit für die eigene spirituelle Identität bietet, empfiehlt Prälat Dybowski auch anderen Orten kirchlichen Lebens im Erzbistum. „Wenn Orte kirchlichen Lebens nicht nur ein Kirchensymbol an der Tür haben wollen, dort nicht nur mal kurz ein religiöses Lied gesungen oder ein Tischgebet gesprochen werden soll, dann muss sie sich regelmäßig mit der Seele des Hauses beschäftigen, die das Evangelium erlebbar macht“, betont der Geistliche Begleiter im Pastoralen Prozess „Wo Glauben Raum gewinnt“. Das stärke das Selbstverständnis, aus dem heraus in einer katholischen Kita, einem katholischen Krankenhaus, einer katholischen Schule gehandelt wird.
„Das war etwas für die Seele“, freut sich Andrea am Ende der Fortbildung. Antonia nimmt Impulse mit, „wie ich den Glauben in den Alltag reinbringen kann“. „Ein toller Tag, der viel Mut für die Arbeit macht und auch meinem Glauben etwas gibt“, resümiert Rita, die den Tag als wirkliche Auszeit empfand: „Es ist gut, dass wir uns im Team als christliche Kita wiedererkannt haben, dass uns klar geworden ist, was es bedeutet, dass wir hier im Haus eine Seele haben.“