»Eine Krise ist eine Krise ist eine Krise«

Interview mit Professorin Dr. Birgit Hoyer

INFO:
Sehr geehrte Frau Professorin Hoyer, ich möchte mit Ihnen einen Blick auf Krisenphänomene unserer Zeit richten. Da ist zunächst die Corona-Pandemie, die unser Leben immer noch stark beeinträchtigt. Ein unsichtbares Virus macht seit einem Jahr menschliche Abschottung notwendig, lässt uns den Wirtschaftskreislauf unterbrechen, ängstigt uns und erinnert uns an die Endlichkeit des Lebens. Wie haben Sie die Situation erlebt?

Hoyer:
Sie sprechen schon die zentralen Erfahrungen an. Ich wechsle zwischen Erschrecken und Erstaunen. Es gibt immer wieder Situationen, in denen mich die Panik packt, was alles „heruntergefahren“ wird – ohne Sicherheit, dass es auch wieder ein Herauffahren gibt, der Kultur, der Läden, in denen man mit Namen begrüßt wird, des herzlichen Miteinanders von Angehörigen, Pflegenden und Bewohner/-innen der Pflege- und Altenheime, auch mit den Gästen aus Schulen und Kitas. Und wie sieht es dort aus, wo Staat und Gesundheitssystem nicht stabil sind? Die Bilder von den Menschen in Moria, aus dem Jemen, aus den afrikanischen und indischen Armutsgebieten sind unerträglich. Die barfuß im Schnee stehenden Geflüchteten in Bosnien-Herzegowina gehen mir nicht mehr aus dem Kopf. 

Zugleich staune ich über die unvorstellbaren Finanzmittel, die nun locker gemacht werden, und was wurde alles mit dem Fehlen derselben begründet. Wieviel Engagement gegen die Zerstörung der Natur, den Klimawandel, für gute Lebensverhältnisse weltweit wäre mit diesem Geld möglich gewesen. Auf was können wir alle plötzlich verzichten angesichts einer hautnahen tödlichen Bedrohung.

INFO:
Unsere Gesellschaft ist auf Vernetzung, Kommunikation und offene Grenzen ausgerichtet. Beim Herunterfahren der Kontakte wurde die Stimme der Theologie vermisst. Welche theologischen Deutungsmuster haben Sie überzeugt?

Hoyer:
Von wem wurde wer oder was vermisst? Eine theologische Deutung der Pandemie kann und darf es meines Erachtens nicht geben. Die existentiellen Themen der Menschen werden natürlich sichtbarer und auch die Fragen nach den Grundlagen von Gesellschaften. Tod und Krankheit sind allgegenwärtig und lassen sich nicht ausblenden. Von Theologie darf erwartet werden, dass sie Denk- und Deutungsangebote macht: Woher kommt und wohin geht der Mensch? Woraus lässt sich Hoffnung schöpfen? Was ist ein gutes Leben? Da gibt es nicht die eine Stimme DER Theologie. Mich beschäftigen gerade die Überlegungen des Freiburger Fundamentaltheologen Magnus Striet zur Kontingenz. In einer Online-Tagung hat er darauf hingewiesen, dass die Problematik erst mit der Vorstellung eines liebenden Gottes entsteht. Aber auch Tiemo Rainer Peters Entleerte Geheimnisse und seine Frage „Wie geht das heute eigentlich noch – glauben?“ lese ich gerade immer wieder, Bonhoeffers „Vor und mit Gott leben wir ohne Gott“ oder Joseph Beuys „Der Mensch muss sich mit seinem Gott selbst aufraffen“. Beeindruckt bin ich von der Hoffnung und dem Lebensmut der Krebskranken in meinem Umfeld, die diese Energie nicht als „Gott“ benennen würden. In dieser Linie weitergedacht, ist für mich eher die Frage, wo lässt sich der christliche Gott in unseren alltäglichen Leben erkennen, nicht welche Antworten gibt die Theologie.

INFO:
Viele Menschen sind nicht nur Covid-19 erkrankt, sondern auch gestorben. Es gab Stimmen, die sahen sehr schnell eine Strafe Gottes in der Pandemie. Auch wenn kein ernsthafter Kirchenvertreter diese Ansicht vertrat, stellt sich die Frage nach unserem Gottesbild, es ist die Theodizee Frage. Passt das Bild vom menschenfreundlichen Gott in die Zeit?

Hoyer:
Welches Bild sonst würde unserer säkularen Gegenwart entsprechen? Ich würde sogar noch einen Schritt weitergehen. In der Pandemie wie in „normalen“ Wirklichkeiten genügt nicht der Glaube an einen irgendwie den Menschen zugewandten, aber doch gegenüberstehenden Gott. Was heißt es für den christlichen Glauben, das Handeln der Kirche, dass die Botschaft Jesu einen menschgewordenen, einen mit den Menschen verwobenen Gott verkündet?

INFO:
Alte Menschen haben Krieg, Flucht und Hunger erleben müssen. Die mittlere Generation kennt vielfältige persönliche und gesellschaftliche Krisen. Was haben die Notstandsverordnungen mit den jungen Menschen gemacht? Gibt es eine CORONA-Generation?

Hoyer:
Ehrlich gesagt kann ich mit der Einteilung in Kategorien eher wenig anfangen. Diese Pandemieerfahrung prägt uns alle, unabhängig von Alter, Region, Status, und alle werden wir ein unterschiedliches Fazit aus dem Erlebten ziehen. Bereits vor der Pandemie bestehende Bildungsungerechtigkeiten verstärken sich natürlich unter den Bedingungen von Distanzlernen und Wechselunterricht, geschlossenen Horten und Kitas, reduziertem Beratungs- und Betreuungsangebot. Grundschullehrkräfte haben mir berichtet, dass Kinder nach einem Lockdown erst wieder lernen müssen, sich in Gruppen sozial zu verhalten. Ob junge Menschen die Zeit als verloren betrachten oder evtl. auch eine stärkere Resilienz entwickeln, vermag ich nicht einzuschätzen.

INFO:
Sie sind als Bereichsleiterin für die Bildung im Erzbistum Berlin zuständig. Wie haben die Schulen und Hochschulen die Corona-Krise bewältigt?
Der erste Lockdown im März hat katholische Schulen wie Hochschulen wie die übrige Gesellschaft völlig unvorbereitet getroffen. Die Hochschulen sind seither konsequent auf digitale Lehre umgestiegen. Auf dem Feld berufsbegleitender und Weiterbildungs-Studien profitieren wir von dieser Entwicklung, da in kürzester Zeit digitale Formate entwickelt wurden, die uns über die Pandemie hinaus ein breiteres Studienangebot ermöglichen. 

Hoyer:
Den Lehrkräften an den Katholischen Schulen und Religionslehrkräften an staatlichen Schulen bin ich unendlich dankbar für ihr Engagement, ihre Kreativität, ihren Pragmatismus und ihre Energie, mit der sie Lernmaterial entwickelt und weitergegeben haben, aber eben auch ihre Schülerinnen und Schüler zusammengehalten, motiviert und begleitet haben. Für Schulleitungen und Kollegien ist diese Pandemiesituation ein unglaublicher Kraftakt, immer wieder Stunden-, Fahr-, Betreuungspläne umzuorganisieren, die Arbeit der Gesundheitsämter z.T. mit zu übernehmen, Elternfragen zu beantworten, Ängsten entgegenzutreten, und und und. Eine große Unterstützung war und ist unsere Lern- und Kommunikationsplattform www.schulerzbistum.de, die von Frau Klapczynski mit großer Kompetenz und Weitsicht aufgebaut wurde und im Moment sukzessive erweitert wird, um auf die rasant gestiegenen Bedürfnisse von Schülerinnen und Schülern, Lehrkräften und Eltern zu reagieren.

INFO:
In der Öffentlichkeit wird eine tiefe Vertrauenskrise in der katholischen Kirche wahrgenommen. Was beeinträchtigt die Glaubwürdigkeit der Kirche besonders?

Hoyer:
Sexualisierte Gewalt, Klerikalismus und der Umgang mit Finanzen.

INFO:
Die vielfältigen Lebensentwürfe der Menschen entsprechen häufig nicht dem traditionellen Kirchenverständnis. Diversity und Kirche, geht das?

Hoyer:
Also das traditionelle Kirchenverständnis des Zweiten Vatikanischen Konzils geht von einer Vielfalt der Lebenssituationen der Menschen aus. Nichts davon darf der Kirche fremd sein, im Gegenteil: Kirche ist der Resonanzraum allen Lebens. Würde Diversity und Kirche nicht gehen, würde sie gegen ihre eigene Verfassung verstoßen und dürfte sich gar nicht mehr Kirche nennen.

INFO:
Im vergangenen Sommer haben Sie im Online-Feuilleton Feinschwarz über das Vergängliche nachgedacht. Gilt das Wort „Gedenke, Mensch, dass du Staub bist“ auch für die Kirche? 

Hoyer:
Ich bin vor Jahren zufällig in eine Ausstellung mit dem Titel „Does permanence matter?“ im Architekturmuseum München geraten. Seither lässt mich diese Frage nicht mehr los. Architektur war für mich bis dahin selbstverständlich auf Dauer hin angelegt. Wenn sich nun Architektur fragt, was wäre, wenn nicht länger Beständigkeit das bestimmende Merkmal wäre, sondern Unbeständigkeit, dann steht die Frage Kirche mindestens ebenso zu Gesicht. Im Gespräch wurde mir von in Kirche Engagierten immer wieder zurückgemeldet, dass sie die Aussicht entlastet, nicht alles für die Ewigkeit planen und umsetzen zu müssen. In Fulbert Steffenskys „Mut zur Endlichkeit“ habe ich später gelesen, dass es dabei nicht darum geht, ständig den eigenen Tod vor Augen zu haben, sondern um die Begrenztheit allen Lebens auf der Erde. Mit dem Gedenken der Endlichkeit verbindet Steffensky passive Stärken wie Geduld, Langsamkeit, Stille- und Hörfähigkeit. Ja, in diesem Sinne gilt die Mahnung auch für die Kirche als Gemeinschaft wie als Institution.

INFO:
„Eine Krise ist eine Krise ist eine Krise.“ Wie sehen Sie die Situation, wo sind Reformen in unserer Kirche dringend notwendig? Was erwarten Sie vom Synodalen Weg? 

Hoyer:
Die Krise hat etwas zu tun mit der Haltung zur Beständigkeit. Was wäre, wenn nicht Bestand und Beständigkeit im Mittelpunkt stehen würden? Was wäre, wenn wir von Unbeständigkeit und Endlichkeit als Charakteristika von Kirche und Welt ausgehen? Wie könnte eine Kirche aussehen, die sich selbstverständlich in der Vergänglichkeit des Lebens, in Situationen, die flüchtig sind, bewegt, die das Flüchtige sucht, nicht in input-output-Mechanismen denkt? Was wäre die Eucharistie in dieser Kirche, vielleicht wie Papst Franziskus sagt, „ein großzügiges Heilmittel und eine Nahrung für die Schwachen“? Und wer sind die Menschen, die Komplizinnen, die Verbündeten dieser Kirche?

Darauf gibt es keine schnellen Antworten, aber meines Erachtens kommt man daran auch nicht vorbei.

INFO:
Eine letzte, sehr persönliche Frage, liebe Frau Dr. Hoyer: Seit gut einem Jahr sind Sie nicht mehr im Hochschulbereich tätig, sondern Teil der Berliner Bistumsleitung. Hat sich Ihr Blick auf die Kirche verändert?

Hoyer:
Mein Blick hat sich geerdet und erweitert, v.a. durch die Gespräche und Begegnungen mit den Lehrkräften, Erzieherinnen, Sozialarbeiterinnen, vielen Menschen in Schule, Hochschule, Pfarrei, Politik, Caritas, mit ihrem tief beeindruckenden Engagement für die „Sache Jesu“. Für die Entwicklung der Katholischen Schulen und des Religionsunterrichts, aber auch der Kirche insgesamt, lässt sich viel von deren Erfahrungen und Auseinandersetzungen lernen. Dieses Rein-Zoomen in Situationen und Raus-Zoomen mit Blick auf Zusammenhänge und Perspektiven ist das Herausfordernde meiner Tätigkeit. 

INFO:
Vielen Dank für die Beantwortung der Fragen.

Das Interview führte Hermann Fränkert-Fechter.