Wer auf einen Berg steigt, verändert die Perspektive. So ging es mir Ende Juni bei einem Besuch der Caritas-Werkstatt St. Johannesberg in Oranienburg. Seit 125 Jahren finden dort junge und ältere Menschen mit Beeinträchtigungen einen Ort zum Lernen, Leben und Arbeiten – einen individuellen Raum zur Entfaltung. Es gibt eine Schule, eine große Werkstatt für behinderte Menschen und betreute Wohnformen. Und mich hatten sie zum großen Jubiläum eingeladen.
Es ist kein wirklicher Berg, auf den ich steigen musste, und trotzdem habe ich viel gelernt: Schon lange habe ich nicht mehr so viel Freude am Feiern, Freude über Gäste erlebt wie bei der Jubiläumsfeier des St. Johannesberg.
Und je länger die Feier ging, desto mehr bewunderte ich, wie dort tatsächlich gelebt wird, was oft genug nur auf dem Papier steht: „Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden“ - so steht es auch im Grundgesetz. Menschen mit Behinderung haben dort die gleichen Möglichkeiten wie alle anderen. Sie nehmen am gemeinschaftlichen Leben teil, wie alle anderen. Wenn man vom St. Johannesberg wieder heruntersteigt, merkt man, dass es bei weitem nicht überall so ist.
In unserer Verwaltung hatten wir zuletzt eine blinde Schülerin als Praktikantin zu Gast. Zu erleben, wie sie sich in unserem nicht barrierefreien Bürogebäude orientierte, wie sie sich in der Welt der Sehenden orientieren konnte und wie sie sehr charmant ihre Perspektive einbrachte, dadurch habe ich dazu gelernt.
„Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden“ – auch solche Begegnungen erinnern mich daran, dass die Benachteiligung nicht allein dadurch verschwindet, weil es so im Grundgesetz steht.
Menschen mit Beeinträchtigungen brauchen kein Mitleid, sie brauchen Verbündete, die ihre Perspektive einnehmen und daraus Veränderungen zu einem besseren Miteinander anstoßen.