Berlin (KNA) Leon lehnt sich auf seinem Stuhl nach vorne, presst die Hände gegeneinander. Der 22-Jährige hat Lampenfieber. Als er aufgerufen wird, steht er auf, geht zum Mikrofon. "Mit zwölf dachte ich nicht, in zehn Jahren sitze ich hinter Gittern", liest er. Und: "Zufrieden mit mir selbst bin ich nicht, dafür aber bereit, den Optimismus nicht aufzugeben." Seine Stimme klingt dunkel, sein Stil ist klar, seine Worte hallen nach. Leon gehört zu einer Gruppe jugendlicher Gefängnis-Autoren, die jetzt gemeinsam ihr erstes Buch veröffentlich haben. Am Dienstag wurde es in der Jugendstrafanstalt (JSA) Berlin vorgestellt.
Thomas Marin, katholischer Diakon im Erzbistum Berlin und Gefängnisseelsorger, hat die Texte-Sammlung "Haftnotizen. Texte und Gedanken aus dem Jugendknast" herausgegeben. "Die Gefangenen können mehr, als sie sich selbst und andere ihnen zutrauen", sagt er. Vor zweieinhalb Jahren brachte Marin das Schreibprojekt auf den Weg. Voraussetzung fürs Mitmachen war eine Bewerbung mit einem selbstgeschriebenen literarischen Text - für die allermeisten Teilnehmer absolutes Neuland. Danach traf sich die Gruppe alle 14 Tage, versuchte sich im Schreiben, ließ sich voneinander anregen, diskutierte. "Es ist beeindruckend, wie gut die Texte sind - von Leuten, die teilweise gar keinen Schulabschluss haben", erzählt Marin.
Für die Insassen war die Motivation, an dem Projekt teilzunehmen, unterschiedlich, erzählen sie. "Mal aus der Zelle rauskommen", sagt etwa Tobi, ein junger Mann in rotem Pulli und Schlabberhose. Aber auch: "Etwas Sehbares machen, etwas Erschaffen." Salah (22) sagt: "Auf andere Gedanken kommen. Mal Erfolg haben. Es ist ja nicht selbstverständlich, an einem richtigen Buch mitgearbeitet zu haben." Mal Erfolg im Leben haben, ein Lob bekommen - dies sei für viele der Straftäter alles andere als alltäglich, betont Marin. Das Buch solle deshalb auch "Anerkennung bringen und Wege in die Zukunft bahnen."
Rund 300 Jugendliche und junge Erwachsene zwischen 14 und 27 Jahren sitzen zur Zeit in der JSA ein, 200 davon sind Verurteilte. Die Straftaten reichen vom Fahren ohne Fahrerlaubnis bis zum Tötungsdelikt. Die meisten der jungen Männer sind wegen Gewaltdelikten im Gefängnis, einem "klassischen Jugenddelikt", bei dem auch Alkoholeinfluss häufig eine Rolle spiele, heißt es.
Bundesweit werden 60 bis 70 Prozent der jungen Straftäter nach ihrer Entlassung wieder rückfällig. "Allerdings bekommen wir sie meistens von der Gewalt weg. Sie verüben dann eher kleinere Delike", berichtet der Berliner Anstaltsleiter Bill Borchert. Für ihn ist das Schreibprojekt "ein kleiner, wichtiger Beitrag auf dem Weg zur Straflosigkeit". Kultur sei "ein guter Türöffner, um an Menschen ranzukommen." Das Gefängnis habe schließlich auch einen pädagogischen Auftrag. "Nur eingesperrt zu sein, verändert keinen."
Der sogenannte Kulturraum, in dem die Lesung stattfindet, ist ein Rundbau mit integrierter Bühne. Nach Gefängnis sieht es hier eigentlich nicht aus, bis auf die schmalen vergitterten Fenster unter der Decke. Und die abgeschlossenen Türen. "Das ist das Schlimmste", erzählt Shamil. "Wenn du in die Zelle kommst, und dann schließen sie die Tür hinter Dir zu. Dann kapierst du, wo du bist." Der 21-jährige hat die "Haftnotizen" illustriert, mit naturnahen, detailgetreuen Bleistiftzeichnungen. Eine knospende Blüte. Ein Vogel, der über die Haftanstalt fliegt und einer, der versucht, sich von einer Fußkette loszureißen.
Das Vogelmotiv kehrt auch literarisch immer wieder, ist ein Thema, dem sich die jungen Autoren in ihren Schreibsitzungen angenommen haben. Weil es die Tiere sind, die man sieht, wenn man aus dem Fenster guckt. Und die Tiere, die wegen ihrer Flügel das am meisten verkörpern, was den Insassen hier am meisten vermissen: Freiheit. Roy, der das Gefängnis inzwischen verlassen hat, bringt es in einem seiner Texte auf den Punkt: Das Gefängnis sei "der einzige Ort, wo Menschen weniger Rechte haben als Vögel".