Der Mönch von der Ostseeküste

Foto: Kunze

Andreas Sommer war Pfarrer von Stralsund, sein Sprengel dreimal so groß wie Berlin. Nun ist er in Wechselburg Pater Joseph. Geflohen sei er nicht – was dann?

WECHSELBURG. Wer heute an Benediktinermönche denkt, hat in sächsischen Breiten neben dem kleinen Wechselburger Konvent vielleicht Etiketten von Weißbierflaschen im Sinn oder bayerische Urlaubsidylle, nicht aber Ostseeküste oder brandenburgische Provinz.

Andreas Sommer – bis 2020 Pfarrer von Stralsund, Rügen, Demmin und seither Benediktinermönch – wird 1967 in Brandenburg an der Havel geboren. Er ist das jüngste von fünf Kindern einer katholischen Familie aus Lehnin, das durch sein einstiges Zisterzienserkloster Bekanntheit genießt.

Der nun 56-Jährige empfängt im Wechselburger Kloster zum Gespräch im Raum „Subiaco“, der an die Keimzelle seines Ordens erinnert. Denn in dem Ort nahe Rom lebte Ordensvater Benedikt von Nursia um das Jahr 500 in einer Felsspalte, Gott suchend, als Einsiedler, bevor er 13 Klöster gründete, danach das berühmte Montecassino.

Pater Joseph hat kein Kloster gegründet, ist aber in eines eingetreten: „Bis jetzt passt es für mich“, sagt er zufrieden, der zuvor die flächenmäßig größte katholische Pfarrei Deutschlands geleitet hat. War das eine Flucht, angesichts gewaltiger Strukturen, von weniger Priestern und Gläubigen, überbordender Bürokratie selbst in der Kirche? „Nein“, entgegnet er entschieden, „es hat gefunkt!“  

Rückblende: Unweit von Potsdam wächst Sommer auf wie viele andere, wenn auch mit Unterschieden: Er absolviert die Polytechnische Oberschule, ohne den Pionieren oder der Freien Deutschen Jugend (FDJ) beizutreten. Ohne Jugendweihe, dafür gefirmt. Dann lässt er sich zum Gärtner ausbilden.

Was folgt, ist ungewöhnlich in der DDR: eine Art kirchliches Soziales Jahr. Damit ließe sich das wenig bekannte „Jahr für Gott“ am ehesten vergleichen. Er leistet es 1987 bei den Goppelner Nazarethschwestern, unweit von Dresden. In diesen Monaten reift der Gedanke, Priester zu werden. Doch für das Theologiestudium braucht es ein Abitur. Er will es am Magdeburger „Norbertinum“ nachholen. Doch er bricht ab; die alten Sprachen liegen ihm wenig. Die Deutsche Wiedervereinigung bringt andere Möglichkeiten. Sommer erwägt, in ein Kloster einzutreten. Er geht zu den Benediktinern in Trier, auch nach Süddeutschland. Und verwirft den Gedanken. Alles hat seine Zeit. Stattdessen erhält er den Rat: Geh nach Heiligenkreuz im Wienerwald! An der Hochschule ist das Studium ohne Abitur möglich, über den Dritten Bildungsweg. „Im Sommersemester 1992 habe ich es begonnen“, sagt er und schließt es 1997 ab. Er kehrt zurück in sein Heimatbistum Berlin, das Gebiete der Ostseeküste einschließt, wird 1999 Priester, 2003 Pfarrer auf Usedom, neun Jahre später von Stralsund, Rügen, später noch Demmin.

Solches Pensum leistet nur, wer auch innehält, den Blick justiert. Einkehrtage haben in der Kirche Tradition, werden auch in Wechselburg angeboten. Sommer aber fährt ins nähere Kloster Alexanderdorf. Doch für die Jugendgruppen seiner Großpfarrei, die etwa vor der Firmung traditionell ebenfalls ein paar Tage ins Kloster gehen, ist das Gästehaus zu klein. Nahe Lübeck findet er ein geeignetes Quartier. Dann kommt für die einen Zufall ins Spiel, für andere Fügung: Bauarbeiten dort verhindern eine geplante Fahrt.

Sommer sucht eine Alternative – und stößt auf die Mönche an der Zwickauer Mulde. Eigentlich ist das zu weit für einen Kurzaufenthalt. Die Gruppe fährt dennoch; sechs Jahre her ist das.

„Der Ort“, sagt Sommer in der Rückschau, „hat mich nicht mehr losgelassen.“ Die Wege des Herrn sind unergründlich. Tage, Nächte treibt ihn ein Bündel Fragen um: „Was will Gott von mir und wo? Was kommt noch? Wie kann und will ich leben?“ Eine priesterliche Midlife-Crisis. Er kehrt nach Wechselburg zurück, reist nach Ettal, überzeugt den Berliner Bischof, ihn ziehen zu lassen. Sommer hat auch praktische Fragen wie die, wie alt man sein dürfe, um noch ins Kloster eintreten zu können. Immerhin ist er über 50.

Er darf und kommt, legt die Zeitliche Profess ab, die Bindung ans Kloster für drei Jahre in Ettal und Wechselburg. Sie endet im März 2025. Bis September bleibt er in Mittelsachsen, kehrt dann zurück nach Oberbayern. Dort wird von ihm, Abt und Mönchen entschieden, ob er die Ewige Profess ablegen will und kann. So viel weiß er schon: Die Tagesstruktur – geregelte Übergänge zwischen Gebets-, Arbeits-, Erholungszeit: Das liegt ihm, heute mehr als vor Jahren. Er feiert Gottesdienste, führt Gäste, leistet Hausmeisterarbeit, begleitet Trauernde und findet es lebensweltlich in Mittelsachsen gar nicht so anders als an der See.

Dazu dies Geschenk: auch in Herrgottsfrühe oder abends bei besonderem Licht in der 850 Jahre alten Basilika Andacht suchen zu können.