Einer von unsWilfried Jenßen

Vor jedem Kommunion-Empfang ein gutes Wort und ein Schulterklopfen für den „Sonnenschein der Gemeinde“. Die Gemeinde Mater Dolorosa setzt sich mit einer Petition für ihr Mitglied Wilfried Jenßen ein.

Jeden Sonntag, bevor Pfarrer Bruno Monn dem Down-Syndrom-erkrankten Wilfried Jenßen (59) in der Kirche Mater Dolorosa die Kommunion reicht, hat er ein gutes Wort und ein Schulterklopfen für ihn. Die Gläubigen kennen das schon und freuen sich mit dem fleißigen Gottesdienstbesucher, dem „Sonnenschein der Gemeinde“, wie Monn betont.

„Er kann für uns Christen ein Vorbild an Lebensfreude und Gelassenheit sein.“ Dabei hat Willi, so wird er allgemein genannt, es keineswegs leicht im Leben. Ginge es nach den Vorstellungen des Verbraucherschutz- und Gesundheitsamtes im Landkreis Barnim, wäre Willi weit entfernt von seiner geliebten Kirche in Oranienburg untergebracht. Dafür wäre das Amt bereit gewesen, die Kosten zu übernehmen, die weit unter denen liegen, die jetzt für seinen betreuten Wohnplatz in der nahe gelegenen Albert-Schweitzer-Stiftung in Blankenburg anfallen.

„Willi gehört zu uns“, fanden 250 Gemeindemitglieder auf Initiative von Ronald Köhler und unterschrieben eine Petition. Sie wurde an Behörden und Redaktionen versandt. Ziel: Willi soll in seinem gewohnten Umfeld wohnen bleiben. Er soll weiterhin seine Freunde in der Gemeinde besuchen können, soll an Gottesdiensten und Gemeindefeiern teilnehmen – wie seit Jahrzehnten.

Dafür setzt sich auch seine Schwester Annelie Ralew (64) ein. Obwohl sie selbst an einer seltenen Autoimmunerkrankung leidet, suchte und fand sie für ihren Bruder nach dem Tod ihrer Mutter (92) vor 15 Monaten, die bisher für ihn da war, eine Wohneinrichtung mit Betreuung. „Er soll doch nicht auch noch von seiner Familie und der ihm bekannten Umgebung getrennt werden. Der Tod unserer Mutter ist für ihn schon schwer genug zu verkraften.“ Und zu dieser Umgebung gehören ganz wesentlich seine Kontakte und Freundschaften zu Mitgliedern der nahen katholischen Mater-Dolorosa-Kirchengemeinde in Berlin-Buch.

Rückendeckung erhielt Willi auch durch ein sozialmedizinisches Gutachten, das der Landkreis Barnim in Auftrag gegeben hatte. Gutachter kamen zum Schluss, dass aus sozialpädagogischer Sicht „der Erhalt der familiären Anbindung, auch bei Wohnen in einer Einrichtung, für die Entwicklung und allgemeine Lebensqualität des Herrn Jenßen grundlegend wichtig“ sei. Dennoch genehmigte das Verbraucherschutz- und Gesundheitsamt des Landkreises Barnim die Übernahme der Kosten nur für ein Haus im 45 Kilometer entfernten Oranienburg. Ein Schock für Annelie Ralew. „Die familiäre Einbindung und der Kontakt zur Pfarrgemeinde sind damit einfach nicht aufrechtzuerhalten.“ Da ihre Klage gegen die Ablehnung ihres Widerspruchs noch bearbeitet wird und das Verfahren beim Landesssozialgericht Potsdam weiter läuft, wohnt Willi weiterhin in Blankenburg.

Betritt man sein Zimmer in der Albert-Schweitzer-Stiftung, fallen sogleich die großen Bildhalter an den Wänden auf. Sie sind voller Fotos von Festen und Fahrten, Begegnungen mit Menschen, die Willi etwas bedeuten. Auf den Regalen sein kleiner „Hausaltar“, an den Wänden immer wieder Kreuze, Fotos vom Gemeindeleben in Mater Dolorosa, an dem er seit 17 Jahren aktiv teilnimmt. Unterstützt von seiner Schwester Annelie, die damit die Lebensaufgabe ihrer Mutter übernommen hat. Fürsorglich wie kämpferisch: „Wenn Willi nach einem Urteil des Sozialgerichts, das vielleicht in zwei Jahren kommt, von hier verlegt werden sollte, gehe ich einen Schritt weiter – und wenn es bis nach Karlsruhe ist.“

Zurzeit absolviert Willi ein Praktikum bei einer Holz verarbeitenden geschützten Werkstatt. Dafür wird der 59-Jährige jeden Morgen um 6.30 Uhr von Blankenburg abgeholt und um 15 Uhr zurück gebracht. Ein Experiment, das ihm offensichtlich Freude bereitet. Fast täglich – am Wochenende ohnehin – wird er dann von seiner Schwester erwartet und für einige Stunden mit in ihre Wohnung genommen. Kurz-Dialoge mit Nachbarn, Spielen mit Nachbarskindern sind dann für ihn ein Ausgleich für lange Arbeitsstunden bei der Montage von Möbeln in den Nordberliner Werkstätten NBW. Erinnerungen an gemeinsame Fahrten mit der Caritas Rostock für Behinderte, Rückblicke auf sein Orgelspiel bei der Weihnachtsfeier der Stiftung, Besuche beim HNO-Arzt (erst Jahrzehnte zu spät wurde bei Willi eine Gehörschädigung festgestellt), Besuche bei Nachbarn … all das sind lieb gewordene Rituale für den „Spaßvogel“ (Köhler) in gewohnter Umgebung.

Der sonntägliche Besuch der heiligen Messe in Mater Dolorosa gehört für Willi selbstverständlich dazu. Sein kräftiges „Amen“ an passender Stelle, wenn auch etwas später, würde die Gemeinde bei einem behördlich verordneten Umzug vermissen. Danach besucht er mit seiner Schwester das Grab der Eltern, wo stets eine Kerze brennt. Unter dem Pelikan – Symbol der Selbstaufopferung bis zum Letzten – steht ein Satz von Johannes vom Kreuz auf dem Grabstein: „Am Abend unseres Lebens werden wir nach unserer Liebe gerichtet werden.“ Und Liebe wurde und wird Willi reichlich zuteil. „Mama war so lieb“, sagt er dankbar jedes Mal, wenn er das Vater Unser am Grab gebetet hat. Die Petition der Gemeindemitglieder könnte dazu beitragen, dass Willi sein gewohntes und geliebtes Umfeld weiter erhalten bleibt.