Frage: Herr Bitter, nach der Tötung des US-Amerikaners George Floyd bei einem Polizeieinsatz und den darauffolgenden weltweiten Protesten wird inzwischen auch in Deutschland kritisch über die Polizei und ihr Verhalten gegenüber Minderheiten diskutiert. Wie erleben Sie als Polizeiseelsorger die aktuelle Debatte?
Bitter: Diese Debatte irritiert viele Polizistinnen und Polizisten. Denn es entsteht in der Diskussion teilweise der Eindruck, dass wir bei der Polizei hierzulande Zustände wie in den USA hätten. Das aber entbehrt jeglicher Grundlage. Nehmen Sie nur die Zahlen zu „Schusswaffengebrauch mit Todesfolge“ bei Polizeieinsätzen: In den USA stehen da rund 1.000 Todesfälle, in ganz Deutschland waren es 14 Menschen im vergangenen Jahr. Die Polizei ist seit Jahren auf Deeskalation ausgerichtet, nicht nur in Kreuzberg und nicht nur am 1. Mai; in der Regel wird immer zuerst versucht, Konflikte durch Gespräche aufzulösen. Ein Vergleich mit der Situation in den USA ist nicht fair.
Frage: Wenn man sich die jüngsten Debatten etwa in den sozialen Netzwerken anschaut, haben viele Menschen – vor allem solche mit Migrationshintergrund – einen weniger positiven Eindruck von der deutschen Polizei. Vielfach haben vor allem schwarze Menschen in den vergangenen Tagen von Schikanen durch Polizisten berichtet, von rassistischen Äußerungen und sogenanntem „Racial Profiling“. Dass es entsprechendes Fehlverhalten gibt, ist ja nicht von der Hand zu weisen.
Bitter: Natürlich nicht. Und es ist auch klar, dass jeder einzelne Fall dieser Art schlimm ist und konsequent aufgeklärt und sanktioniert werden muss. Dass Polizeihandeln beobachtet wird, ist richtig, aber dass die Polizei so im Feuer steht und auch aus der Politik mit Vorwürfen überzogen wird, halte ich für maßlos übertrieben.
Frage: Sie denken etwa an die SPD-Vorsitzende Saskia Esken, die der deutschen Polizei vor einigen Tagen latenten Rassismus unterstellt hat und eine unabhängige Aufarbeitung von Gewalt und Rassismus in der Polizei gefordert hat?
Bitter: Unter anderem, ja. Ich weiß aus Gesprächen, dass solche Aussagen von den Polizisten, die jeden Tag ihren Kopf für unsere Sicherheit hinhalten, als wirkliche Kränkung empfunden werden. Ich habe das Gefühl, dass die Verhältnismäßigkeit in der aktuellen Debatte nicht mehr stimmt. Natürlich gibt es auch unter Polizeibeamten schwarze Schafe – aber man soll doch bitte nicht so tun, als sei die deutsche Polizei ein Ansammlung von Rassisten! Die Polizei steht für Recht und Ordnung und für die freiheitlich-demokratische Grundordnung in unserem Land – das wird in der derzeitigen Diskussion leider weitgehend ausgeblendet.
Frage: Woran liegt das Ihrer Meinung nach?
Bitter: Nun ja, wir erleben ja schon seit geraumer Zeit, dass das Klima für Polizisten in Deutschland – ebenso wie auch für Feuerwehrleute und Sanitäter – rauer wird. Einsatzkräfte werden beschimpft, beleidigt und teilweise auch körperlich angegangen. Das ist eine Entwicklung, die mir große Sorgen macht. Darüber hinaus habe ich aber auch das Gefühl, dass manche Leute die Proteste nach dem Tod von George Floyd als willkommene Gelegenheit sehen, auch hierzulande ihren Hass auf die Polizei auszuleben. Die Krawalle in Stuttgart deuten für mich in eine ähnliche Richtung.
Frage: In den vergangenen Tagen wurde viel über einen Text in der Tageszeitung „taz“ diskutiert, in dem eine Autorin Polizisten mit Abfall auf der Mülldeponie verglichen hat. Was sagen Sie dazu?
Bitter: Auch wenn der Text satirisch sein soll, fördert er durch seine eine eindeutig beleidigende Wortwahl den Hass auf eine ganze Berufsgruppe. Der Text bedient sich bei „Hate Speech“. Er beleidigt alle Polizistinnen und Polizisten. Dass die Chefredaktion der „taz“ es nötig hat, in die unterste Schublade zu greifen, nur um Aufmerksamkeit zu erregen, verstehe ich nicht.
Frage: Die Deutsche Polizeigewerkschaft hat inzwischen Strafanzeige gegen die „taz“ erstattet. Finden Sie das richtig?
Bitter: Aus meiner Sicht ist bei diesem Artikel bewusst eine Grenze überschritten worden Dass sich die Gewerkschaft für ihre Mitglieder einsetzt, finde ich nachvollziehbar.
Frage: Sie haben eben schon gesagt, dass viele Polizisten die aktuelle Diskussion als Kränkung empfinden. Wie würden Sie denn darüber hinaus und ganz grundsätzlich die Stimmung in der Polizei beschreiben?
Bitter: Viele Polizisten haben das Gefühl, dass ihnen der Wind immer stärker ins Gesicht bläst. Über das raue gesellschaftliche Klima haben wir ja schon gesprochen, hinzu kommen eine hohe Arbeitsbelastung mit Schichtdienst und vielen Überstunden. Die Berliner Polizei war zudem jahrelang Schlusslicht in der Besoldung im Vergleich mit den anderen Bundesländern. Rückenwind sieht definitiv anders aus, und das schlägt vielen Beamten auf Dauer aufs Gemüt. Aktuell müssen sie Versammlungen auflösen und die Einhaltung der Corona-bedingten Einschränkungen auch bei Verschwörungstheoretikern und Impfgegnern durchsetzen, auch das ist keine leichte Aufgabe.
Frage: Wie beurteilen Sie vor diesem Hintergrund das neue Berliner Landes-Antidiskriminierungsgesetz, das Menschen vor Diskriminierung durch Behörden schützen und etwa Klagen in Fällen erleichtern soll, in denen sich Menschen von Polizisten diskriminiert fühlen?
Bitter: Über das Anliegen des Antidiskriminierungsgesetzes müssen wir gar nicht streiten. Wo Menschen wegen ihres Aussehens, ihres Geschlechts, ihrer religiösen Überzeugung diskriminiert werden, muss das aufgeklärt und sanktioniert werden, auch bei der Polizei. Von vielen Polizistinnen und Polizisten wird das Gesetzt aber als so eine Art Generalverdacht gegen die Polizei und auch gegen andere Behörden wahrgenommen. Außerdem bin ich gespannt, wie sich das Gesetzt in der Praxis auswirkt, ich befürchte, dass es vor allem den Verwaltungsaufwand durch schriftliche Stellungnahmen deutlich erhöhen wird.
Frage: Zum Schluss: Wie kann die derzeitige Debatte um die Polizei aus Ihrer Sicht als Seelsorger gut aufgelöst werden? Was muss passieren, damit die Polizei und ihre Kritiker wieder näher zueinander finden?
Bitter: Ganz entscheidend ist, dass sich beide Seiten klar machen, dass sie es auf der jeweils anderen Seite mit Menschen zu tun haben. Ich begegne nicht nur einem Beamten in Uniform, sondern einem Menschen. Und das gilt auch für die Polizei: Sie muss bei ihren Einsätzen immer den Menschen sehen – unabhängig von seiner Hautfarbe oder seiner Religion. Daran müssen wir alle gemeinsam arbeiten. Zudem braucht es dringend ein verbales Abrüsten, damit sich die Fronten nicht weiter verhärten.