Podiumsdiskussion an der Viadrina Erzbischof Koch diskutiert in Frankfurt an der Oder

„Was hält unsere Gesellschaft zusammen? Werte, Wissenschaft, Religion in der sich wandelnden Welt“ lautete das Thema der Podiumsdiskussion an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder) am 18.05.17, an der Erzbischof Dr. Heiner Koch, Diözesan-Caritasdirektorin Prof. Dr. Ulrike Kostka, Mitglied der CDU-Bundestagsfraktion und ehemaliger Oberbürgermeister von Frankfurt (Oder) Martin Patzelt, der Migrationsexperte Prof. Dr. Werner Schiffauer sowie der Präsident der Viadrina Prof. Dr. Alexander Wöll teilnahmen. Die Moderation erfolgte durch Pater Theodor Wenzel M.ld., Priester der Ortsgemeinde Heilig Kreuz, sowie den evangelischen Studierendenseelsorger Pfr. Dr. Tobias Kirchhof.

Erzbischof Heiner Koch führte durch einen Vortrag in das Thema ein. Die Frage nach dem Zusammenhalt sei Ausdruck der Suche nach Identität, nach etwas Verbindlichem zwischen den sich zunehmend divergierenden Gruppierungen und unterschiedlichen sozialen Schichten. Er stellte fest, dass die Erklärungen der Religion für viele Menschen nicht mehr tragen; vielfach werden Ratio und Glauben (im Sinne von Mythos) als Gegensatzpaar gesehen. Ein gegenseitiges sich-Verschließen dieser Dimensionen sei aber gefährlich und das Christentum habe den Anspruch, der Vernunft gegenüber offen zu sein. Glauben sei keine Entscheidung – jeder Mensch glaubt, muss glauben. Die Frage lautet dann: Was und wem glauben wir? Erfahrungen spielen hier eine Rolle – wir alle leben von Voraussetzungen, die wir nicht geschaffen haben. Finanz- und Wirtschaftskrisen etwa seien im Grunde Vertrauenskrisen; Instabilität wecke das Bedürfnis nach etwas Absolutem. Gerade in Großstädten leben die Menschen „versäult“ in unterschiedlichen Welten - der Erzbischof spricht hier von „Inflation“ bzw. „Atomisierung“ der Wirklichkeiten (vgl. Charles Taylor ) und „Bindestrich-Gesellschaften“ -, die jeweils nur einen Ausschnitt darstellen. Da gibt es kaum (mehr) Selbstverständliches oder etwas wie Normalität, die Debatte bewegt sich zwischen Leitkultur und „alles ist möglich“. Entsteht Identität dann durch Abgrenzung? Wenn alles möglich ist, muss es auch extrem Rechte geben. Der Erzbischof resümiert: Ohne Institutionen, Kleingruppen, gerade auch die Familie müsse der Mensch sich selbst erschaffen. Dies überfordere viele: In Berlin gibt es weit mehr Selbstmörder als Verkehrstote!

Was ist also zu tun? Heiner Koch sieht einen ersten Schritt in der offenen Diskussion der Frage nach dem, was uns zusammenhält. Antworten aus verschiedenen Richtungen müssten eingebracht werden, so auch Kunst und Religion. Im Sprechen, Aushandeln und schließlich Handeln gehe es möglicherweise darum, was wir zusammenhalten. Gerade Christen müssen die Frage nach dem Absoluten, nach Gott(esvorstellungen) wach halten und immer wieder zur Diskussion zwischen Ratio und Glaube bereit sein.

Abschließend formulierte er Thesen zur Integration von Geflüchteten, eine Frage, die ihn sehr bewege.

1. Integration braucht Zeit und muss wachsen. Man kann sie nicht machen, vielmehr bedarf sie der Fürsorge und des Verständnisses.

2. Integration verändert Ankommende wie Aufnehmende – in allen Bereichen. Wir haben meistens die Migration des Einzelnen im Blick – Integration gelingt jedoch nur in der (Groß-)Familie!

3. Menschen bringen ihre Heimat mit und leben in ihren Beziehungen. Sie bringen auch ihren Glauben mit und leben diesen: die Bedeutung von Religion nimmt zu: „Sie nehmen Gott ernst, das sind Berliner von Christen nicht gewohnt!“

5. Menschen aus anderen Kulturen empfinden anders. Dies wurde z.B. am Karikaturenstreit deutlich.

6. Integration muss gewollt sein.

Ein Rückblick auf die Geschichte macht Mut. Integration ist oft geglückt. Für die katholische Kirche im Erzbistum Berlin sind die 112 Nationen unter ihrem Dach ein großer Reichtum!

Die anschließende Diskussion vertieft einige Aspekte:

Aus Sicht der Universität als Trägerin der Wissenschaft stellt Alexander Wöll fest: Wissenschaft hinterfragt immer Wahrheiten; Religion sucht nach der einen Wahrheit. Wissenschaft wird immer an ihre Grenzen kommen; an dieser Grenze setzt der Glaube an. Im Idealfall ergänzen sie sich. Herzensbildung und Wissen schließen sich nicht aus! Die Universität kann zudem gelebte Demokratie durch ihr Vorbild manifestieren. Internationale und interreligiöse Vielfalt wird umgesetzt. Mit Studierenden wie Geflüchteten wird auf Augenhöhe gesprochen, werden Projekte gemeinsam umgesetzt, Pluralität gelebt – der persönliche Kontakt ist wichtig.

Werner Schiffauer verwendet anstelle der Leit- den Begriff Verantwortungskultur. Seinen empirischen Befunden zufolge entstand seit Sommer 2015 eine Bürgerbewegung von 5-6 Mio. Menschen, die die Städte neu gestalten. Anstatt über Werte zu sprechen, wurde Verantwortung übernommen. In Begegnungen wurde der Andere entdeckt, Empathie gelebt. Aus seiner Forschung in muslimischen Communities sieht der Ethnologe den Wertezuwachs durch Migration hier: Religionen durchdenken jeweils bestimmte Inhalte näher. Der Islam behandelt etwa eingehend die Themen Gerechtigkeit sowie Balance zwischen Individuum und Gemeinschaft, fragt also nach sozialen Ordnungen, die dieser gerecht werden.

Ulrike Kostka, die auch eine Professur für Moraltheologie an der Universität Münster innehat, betont, dass die Diskussion um den Islam oft bei Verhaltensweisen stehen bleibt. Es sei wenig Wissen darüber verbreitet. Mit Bezug auf die professionelle Arbeit im Erzbistum und die praktischen Erfahrungen sieht sie die zentrale Aufgabe der Kirchen bzw. Religionen darin, alle Akteure an den Tisch zu holen und auf Augenhöhe mit ihnen zu diskutieren. Meistens wird aber nur über sie gesprochen. Über die gemeinsame Geschichte und kulturelle Tradition hinaus bieten die Kirchen ein strukturelles Netzwerk, nicht nur in Städten, sondern gerade auch auf dem Land wie in Brandenburg. Sie müssen den Finger in die Wunde legen; nicht nur reden, sondern tun; sich nicht nur nach innen richten, sondern Menschenrechte einfordern! Es muss ihnen in allem um den Menschen gehen, wenn sie glaubwürdig sein wollen. Indessen werden Begriffe wie „Wert“ und „Menschenwürde“ inflationär gebraucht; sie müssen inhaltlich gefüllt und konkret werden. Letztlich geht es um emotionalen Zusammenhalt; um ein Gemeinschaftsgefühl, aus dem sich Werte ableiten. Wie entsteht das angesichts der Globalisierung? Die Geflüchteten vom Oranienplatz konfrontierten sie einprägsam: „Ich bin ein Mensch, du bist ein Mensch - was unterscheidet uns?“

Auf die Frage hin, ob wir Werte verteidigen müssen, bestätigt der Sozialpädagoge und Katholik Martin Patzelt: es geht nicht darum, sie zu verteidigen, sondern sie vorzuleben als Zeugnis. Er verweist auf Jesus, der von sich sagt: „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben.“ Glauben heißt in erster Linie nicht Philosophie im Sinne von für-wahr-halten, sondern ist ein Weg, für den man sich entscheidet. Was zusammenhält, ist das gemeinsame Tun, ein Ziel, ein Projekt! Die Erfahrungen aus Begegnungen und Engagement lauten: Vielfalt wird zum Normalfall und man wird beschenkt. Mit Blick auf den Bundestag beobachtet er in allen Fraktionen christlich Orientierte, die immer wieder die Frage im Blick behalten: Wie wollen wir die Welt langfristig gestalten? Die Entscheidungsfindung ist meist schwierig, Politik folgt auch dem Zeitgeist und Wählerwillen, ist auf die Medien angewiesen. Vorbild bedeutet für ihn, ein Bild vor sich zu haben. Er räumt ein: Politiker haben oft Angst. Mit einem (Menschen-)Bild vor Augen lebt man freier und unbeschwerter.

Auf die Frage hin, wie seine Einladung an das christlich sozialisierte Europa als Fusionskraft laute, ermuntert Erzbischof Heiner Koch, den christlichen Glauben nicht als Dogma, sondern eine Liebesbeziehung zu verstehen. Die Liebe ist in jedem, die Antwort des Menschen kommt aus dem Geliebtsein. Die Ordnung muss so gestaltet werden, dass die Liebe gefördert, also Liebesfähigkeit hergestellt wird. Wir können Liebe ermöglichen oder unterbinden!

Im anschließenden Plenum werden u.a. die päpstliche Enzyklika Laudato si, welche die Frage nach der Gesellschaft transzendiert und die große Dimension mit denkt; die Ökumene als Akzeptanz der Verschiedenheit und das Spezifikum des Kirchenasyls gestreift. Was, so die abschließende Runde, wird von der Wissenschaft erwartet? Sie kann zum Perspektivwechsel verhelfen, wahrscheinliche Szenarien durchspielen und so vernünftige Entscheidungsgrundlagen schaffen. Sie muss gründlich sein, reflexionsfähige AbsolventInnen hervorbringen und sich an der Praxis messen lassen, siehe Anwendungsforschung! Schließlich ist Wissenschaft an sich wertfrei und erhebt den Anspruch an ihre VertreterInnen, ethisch und moralisch handeln. Das ist keine Selbstverständlichkeit und muss immer wieder eingefordert werden.