Gefängnisseelsorge als glaubwürdiger Beitrag zur Versöhnung getrennter „Welten“
Patrick Beirle, u.a. Seelsorger in den Justizvollzugsanstalten Neuruppin-Wulkow und Wriezen
Kirche stellt Öffentlichkeit her
Brücken zu bauen zwischen der Welt der Gefängnisse, die wir ganz bewusst aus unserer Realität ausblenden, und der übrigen Welt unserer Gesellschaft/Kirche(n), ist eine der Aufgaben von Gefängnisseelsorge. Die GefängnisseelsorgerInnen im Erzbistum Berlin haben dies in ihrem Profil folgendermaßen formuliert:
„Durch unsere Stellung als Seelsorger innerhalb des Gefängnisses sind uns besondere Möglichkeiten gegeben. Wir können zwischen der Institution des Gefängnisses und den einzelnen Gefangenen vermitteln, wir können zur Verständigung beitragen und Brücken zu Angehörigen schlagen, uns ist es möglich, vorherrschende Bilder in Kirche und Gesellschaft zu korrigieren.“
Dieser Artikel ist als ein Beitrag zu verstehen, die Welt der Gefängnisse, die Sorgen und Nöte von Gefangenen nicht in Vergessenheit geraten zu lassen, sondern erneut ins öffentliche Bewusstsein zu rufen. In Fernsehen, Rundfunk und den Printmedien beschränkt sich die Berichterstattung in der Regel auf die Taten, derer Menschen beschuldigt werden beziehungsweise verurteilt wurden. Der Reduzierung von Menschen auf ihre Taten will Gefängnisseelsorge bewusst entgegen wirken.
Allein schon durch die Präsenz von Seelsorgern in Justizvollzugsanstalten stellt Kirche Öffentlichkeit her. Da es in diesem Heft der Informationen (Nr. 100 III/2010, S. 16f.) um den Schwerpunkt von Kirche und Öffentlichkeit geht, sollen hier einige Aspekte aus der Perspektive eines Gefängnisseelsorgers zu Wort kommen.
Beispiele für Situationen, in denen Seelsorger Gefangene unterstützen können, Brücken zu bauen:
- Vermittlung in Konflikten zwischen Gefangenen und Bediensteten.
- Unterstützung durch ein Gespräch, wenn der Kontakt zu Familienangehörigen gerade brüchig ist.
- Hilfe bei der Entlassungsvorbereitung.
Inhaftierte sehen sich oftmals nicht nur vor die äußeren Gräben gestellt, sondern spüren diese auch in sich.Sie haben Ungelöstes (keine Ausbildung, Arbeitslosigkeit, Alkoholkrankheit, psychische Traumatisierung etc.) in ihrem Leben ausgeblendet oder keine Lösung dafür gefunden, und sind in der Folge letztlich im Gefängnis gelandet.
Seelsorger können dabei unterstützen, Verantwortung für ihre Taten und die damit verbundenen Auswirkungen zu übernehmen, und somit ihrer Versöhnung mit sich und der Gesellschaft näher zu kommen.Verbunden ist damit oft die Auseinandersetzung mit Schuld und Scham. Ohne Begleitung ist dies in der Regel nicht möglich.
Brücken zu bauen kann man als Versöhnung verstehen. In einem Lied, das immer wieder in den Gottesdiensten im Gefängnis gesungen wird, heißt es:
Wie ein Fest nach langer Trauer,
wie ein Feuer in der Nacht,
ein offnes Tor in einer Mauer,
für die Sonne aufgemacht. …
So ist Versöhnung, so muss der wahre Friede sein.
So ist Versöhnung. So ist Vergeben und Verzeihn.
…
Seelsorger als Vertreter von Kirche in der Öffentlichkeit des Gefängnisses
Seelsorger stellen nicht nur Öffentlichkeit her, sondern stehen selbst in der Öffentlichkeit innerhalb des Gefängnisses.
Die Stellung des Seelsorgers unterscheidet sich von der anderer Berufsgruppen einer Justizvollzugsanstalt (siehe Profil). Gekennzeichnet ist sie zum Beispiel dadurch, dass er zugleich Vertreter von Kirche und Fachdienstmitarbeiter der Justizvollzugsanstalt ist. Des weiteren kommt das Privileg des Seelsorgegeheimnisses und des Zeugnisverweigerungsrechtes hinzu. Diese besondere Stellung kann deshalb bei dem ein oder anderen Mitarbeiter der Anstalt Zurückhaltung hervorrufen. Gerade in den ersten Jahren der Tätigkeit als Seelsorger in einer JVA ist es deshalb sehr wichtig, Vertrauen zu schaffen. Aber auch Gefangene prüfen genau, ob sie ein Angebot der Seelsorge in Anspruch nehmen, unter anderem weil die meisten nicht getauft sind.
Daran zeigt sich, dass es nicht nur einfach von der Stellung im System einer Justizvollzugsanstalt oder von der christlichen/atheistischen/antikirchlichen Prägung der gesellschaftlichen Realität abhängt, wie kirchliche Seelsorge gesehen wird, sondern entscheidend ist, wie dieser Raum von den einzelnen Seelsorgern gefüllt wird.
Verfehlungen von Gläubigen und Kirchenvertretern außerhalb des Gefängnisses treten meiner Erfahrung nach in der Situation einer Justizvollzugsanstalt in den Hintergrund, und das obwohl zum Beispiel Inhaftierte, die wegen sexuellen Missbrauchs verurteilt wurden, auf der absolut untersten Hierarchiestufe im Gefängnis stehen.
Damit Seelsorge als Angebot (Entscheidungsspielräume gibt es im Gefängnis ja sehr wenige) für viele unterschiedliche Gefangene und Bedienstete möglich wird, sind vor allem folgende Haltungen und Fähigkeiten zu pflegen:
Ehrlichkeit, Transparenz und Verlässlichkeit sind sicherlich die wichtigsten. Sie sind alles andere als selbstverständlich. Beispielsweise durch das Einhalten von Terminen oder Zusagen wird Vertrauen geschaffen. Hierzu zählt auch das unbedingte Schützen des Seelsorgegeheimnisses.
Die Bereitschaft, sich auf persönliche Kontakte einzulassen und die eigene Beziehungsfähigkeit weiter zu entwickeln.
Nicht zu vergessen ist das Einhalten einer professionellen Unabhängigkeit zu Gefangenen
und Mitarbeitern der Anstalt, um in der jeweiligen Situation angemessen reagieren zu können.
Wichtig ist auch die Anerkennung der Tatsache, dass es unterschiedliche Bedürfnisse gibt. Darin kommt der Respekt dem einzelnen Menschen gegenüber zum Ausdruck. Im Land Brandenburg wenden sich nur wenige Getaufte (und viele Ungetaufte) an den Seelsorger, einfach weil kaum einer getauft ist. Und das tun sie mit ihrem je unterschiedlichen Bedürfnis. Deshalb haben Seelsorger viele verschiedene Aufgaben. Gemeint ist damit aber nicht die unverantwortete Erfüllung aller Wünsche von Gefangenen und Bediensteten. Ein paar Beispiele aus dem breiten Aufgabenspektrum:
Verteilen von Tabak als Überbrückung, Ausgabe einer Bibel oder eines Rosenkranzes, Ermöglichung eines Telefonates, nachdem ein angemeldeter Angehöriger nicht zum Besuch erschienen ist, Heraussuchen eines Gebetes für einen bestimmten Anlass, Packen und Verteilen von Weihnachtspaketen, mit einem Gefangenen in der Kirche sitzen, Beantworten von Fragen zu Bibel, Glauben und Kirche, Verleihen eines Fernsehers, Vorbereitung auf den Wiedereintritt in die Kirche beziehungsweise auf die Taufe, Gespräche, um die eigene Lebenssituation besser auszuhalten und zu verstehen, und vieles andere mehr.
Auch die Gottesdienstbesucher kommen mit ganz unterschiedlichen Motivationen. Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass sich die Gottesdienstbesucher nur bedingt mit den Gefangenen decken, die sich in regelmäßigen, persönlichen und intensiven Gesprächen mit ihrem Leben konstruktiv auseinandersetzen.
Durch das Ernstnehmen der Bedürftigkeiten im Mangelsystem Gefängnis wird Glaube im Gefängnis konkret. Es wird erfahrbar, dass Leben und Glauben untrennbar zusammen gehören.
„... ich war im Gefängnis, und ihr seid zu mir gekommen. …
Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan.“ (Mt 25, 36c u. 40b)
Zum Schluss ist noch die Glaubwürdigkeit zu nennen. Wenn Inhaftierte Fragen stellen, dann wollen sie konkrete Antworten, die sie nachvollziehen können. Deshalb spielt die Zurverfügungstellung von eigenen Lebens- und Glaubenserfahrungen eine bedeutende Rolle.
Das Leben der oben genannten Haltungen und Fähigkeiten bereitet den Boden für einen glaubwürdigen Glauben und eine glaubwürdige Kirche.