Grußwort anlässlich des Reformationstages 2011

Sehr geehrter, lieber Herr Bischof Dröge, verehrte Gäste aus Politik und Gesellschaft, liebe Schwestern und Brüder!

Herzlich danke ich Ihnen für die Einladung zu Gottesdienst und Empfang anlässlich des Reformationstages. Dies ist ein Zeichen ökumenisch gewachsener und bewährter Verbundenheit auch in kritischen Zeiten, das mich sehr dankbar macht. Denn wir alle wissen, dass für Katholiken der Reformationstag kein Tag unbeschwerter Freude ist. Er ist verbunden mit der Erinnerung an das Zerbrechen der kirchlichen Einheit im Abendland. Ein Zerbrechen, an dem Akteure auf allen Seiten beteiligt waren und bei dem geistliche Anliegen und die Leidenschaft für das befreiende Wort Gottes leider auch durch weltliche Interessen der politisch Mächtigen überlagert wurden. Das Zerbrechen der Einheit und die darauf folgende Konflikt- und Entfremdungsgeschichte innerhalb des Christentums können für uns kein Grund zum Feiern sein. Seit dem Jahr 1999 ist der 31. Oktober aber auch ein Tag der Überwindung gegenseitiger Lehrverurteilungen und ein Tag des gemeinsamen Bekenntnisses zwischen dem Lutherischen Weltbund und der Römisch-Katholischen Kirche, inzwischen auch mit dem Methodistischen Weltbund. So bekennen wir mit der Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre: „Allein aus Gnade im Glauben an die Heilstat Christi, nicht auf Grund unseres Verdienstes, werden wir von Gott angenommen und empfangen den Heiligen Geist, der unsere Herzen erneuert und uns befähigt und aufruft zu guten Werken.“ (vgl. GER Nr. 15) Und es ist wahr, dass, wie es der Vorsitzende des Rates der EKD, Präses Schneider, bei seiner Begegnung mit Papst Benedikt im Augustinerkloster in Erfurt betont hat, „die Reformatoren … die Reformation als Umkehr der Kirche zu Christus verstanden“ haben. In diesem Sinn können Katholiken des Reformationstages gedenken als eines Tages der Umkehr zu Christus und der Bitte um ein noch stärker gemeinsames Christuszeugnis aller Christen.

Bekanntermaßen können eine Reihe von Einsichten des Zweiten Vatikanischen Konzils als Aufnahme von Anliegen Martin Luthers und der Reformation gesehen werden: die Herausstellung des maßgeblichen Bedeutung der Heiligen Schrift für Leben und Lehre der Kirche, das Verständnis der kirchlichen Ämter als Dienst, die Betonung des Priestertums aller Glaubenden oder das Recht der Person auf Freiheit in religiösen Dingen, um nur einige zu nennen (vgl. Martin Luther – Zeuge Jesu Christi, in: Dokumente wachsender Übereinstimmung, hrsg. von H.Meyer, Bd.II, Paderborn/Frankfurt a.M. 1992, 444-451, hier 449).

Doch wir müssen nüchtern zur Kenntnis nehmen, dass nicht nur unsere Kirchen- und Amtsverständnisse zur Zeit nicht miteinander vereinbar sind, zuweilen auf beiden Seiten gegeneinander profiliert werden. Auch unsere Verständnisse vom Ziel der Ökumene und vom Weg der Ökumene sind deshalb verschieden. Während die katholische Seite sich von einer „Rückkehrökumene“ verabschiedet hat, aber eine sichtbare Einheit nach vorheriger Lösung der klassischen Kontroversthemen anstrebt, propagiert die evangelische Seite inzwischen immer stärker eine wechselseitige Anerkennung bei bleibenden Differenzen. Wir dürfen und sollen freimütig unsere jeweilige Überzeugung äußern, was denn sonst? Doch wir dürfen nicht vergessen, dass wir dabei auch von konfessionellen Denkformen, Traditionen und Mentalitäten teils unbewusst geprägt sind. Zu hoffen, dass die jeweils anderen unsere Weise zu denken und unsere Weise zu glauben irgendwann schließlich doch übernehmen, das führt uns alle und die Ökumene in eine Sackgasse, entweder in Selbstgenügsamkeit oder Ratlosigkeit.

Auf diesem Hintergrund gewinnt die Aussage Papst Benedikts in Erfurt  „Dies ist eine zentrale ökumenische Aufgabe, in der wir uns gegenseitig helfen müssen: tiefer und lebendiger zu glauben“ an Prägnanz und Brisanz. Aufrichtig umgesetzte Gegenseitigkeit in unserem Bemühen um neuen Tiefgang im Glauben könnte manche Blockade in gegenseitiges Vertrauen wandeln. Gegenseitigkeit in der Ökumene schließt notwendig auch die Orthodoxie und die Freikirchen ein, zusammen mit einem wachen Blick auf geistliche Entwicklungen in der Weltchristenheit. Auf diese Weise kann der Geist Gottes stärker wirken, unsere Denkformen und Strukturen im Sinne Christi umgestalten und verflüssigen – mehr und anders als wir selbst es vermögen und erwarten. Und könnte die vom Papst ausschließlich gegenüber Katholiken angemahnte „Entweltlichung“ nicht auch all das konfessionell oder kulturell Gewohnte einschließen, dass nicht dem Evangelium Christi und der genuinen apostolischen Überlieferung in den Herausforderungen unserer sich wandelnden Welt entspricht? Der Papst hat keine Weltflucht gemeint, sondern das johanneische „nicht von der Welt sein, aber in die Welt gesandt sein“ (vgl. Joh 17,14-18). Unter diesem Wort stehen wir gemeinsam und sind gemeinsam in unsere gesellschaftliche Wirklichkeit gesandt.

Die Ökumene zwischen uns und ebenso mit der Orthodoxie und den Freikirchen, wie sie exemplarisch im Ökumenischen Rat Berlin-Brandenburg gefördert und bezeugt wird, ist für uns Christen hier in der Region lebens- und überlebenswichtig.

Nach menschlichem Ermessen ist der Weg zur vollen Kirchengemeinschaft, zu einer wie auch immer gefassten Einheit in Vielfalt, noch weit. Aber wir können schon jetzt die beglückende Erfahrung machen, dass wir Christus unter uns lebendig erfahren, wenn wir in seinem Namen gemeinsam beten und handeln, wenn wir als Getaufte Glieder an seinem Leib und aus seiner Gnade und Barmherzigkeit leben – auch und gerade auf unserem ökumenischen Weg.

Deshalb möchte ich schließen mit einem Gedanken Martin Luthers aus der Auslegung des Magnifikats zu Lukas 1,54: „Das sind die Reichtümer göttlicher, unergründlicher Barmherzigkeit, die wir aus keinem Verdienst, sondern aus lauter Gnade bekommen haben. Darum sagt Maria: ‚Er hat gedacht an seine Barmherzigkeit‘, sie sagt nicht: ‚Er hat gedacht an unser Verdienst und Würdigkeit‘. Bedürftig waren wir, aber ganz unwürdig. Darin besteht nun sein Lob und seine Ehre, und unser Rühmen und unsere Vermessenheit müssen stillschweigen.“

Ich freue mich, in diesem Sinne weiter mit ihnen auf dem nicht vorhersehbaren Weg der „ecclesia semper reformanda“ unterwegs zu sein, dem einen Herrn Jesus Christus entgegen.

Dr. Rainer Maria Woelki
Erzbischof von Berlin

Berlin, 31. Oktober 2011