Georg Kardinal Sterzinsky

zum Fest der Auferstehung Christi 2008

Suchen, was droben ist

Alle feiern Ostern. Wenn auch auf unterschiedliche Weise. Den einen reicht es, die Wohnung mit lustigen Hasen und bunten Eiern zu dekorieren, ein Osterlamm zu backen und dem „Osterwasser“ zuzusprechen. Andere nutzen die arbeitsfreien Tage für Kurzurlaub oder Familientreffen.

Für manche ist es das Fest des siegreichen Lichts. Es wird heller, zumindest draußen. Früher sagte man sogar, dass die Sonne am Ostermorgen aus Freude über den auferstandenen Christus mehrmals am Horizont emporhüpfe. Wie beim Weihnachtsfest wollte man damit ausdrücken: Jesus Christus ist unsere Sonne.

Wieder andere richten ihre Aufmerksamkeit auf das Erwachen der Natur, auf den Frühling. „Vom Eise befreit sind Strom und Bäche…“ Manchen genügt das für ein Fest der Hoffnung und des Aufbruchs, mit Osterfeuern auf dem Hügel oder dem Dorfplatz und einem Osterspaziergang. Heute ist ja auch kaum vorstellbar, was der Winter für unsere Vorfahren bis in die vorindustrielle Gesellschaft bedeutete, und warum das Ende des Winters so sehnlich erwartet wurde. Dunkelheit, Kälte, Nahrungsknappheit und noch geringere Mobilität als sonst ließen den Winter zum „bösen Mann“ und „Tod“ werden, den man mit Freuden vertrieb. „Winter adé, Scheiden tut weh. Aber dein Scheiden macht, dass uns das Herze lacht“, haben die Grundschüler noch in den 1980er Jahren im Musikunterricht gelernt, und sich vielleicht gewundert, wo doch Schlittenfahren und Schneeballschlacht so viel Spaß machen, wenn es denn geschneit hatte.

Alle sehnen sich – bewusst oder unbewusst – nach der Überwindung von Leid und Tod. Und möchten diesen ersehnten Sieg des Lebens feiern. Doch da meldet sich, wie man meint, der „Realitätssinn“. Ganz im Sinne des großen Bertolt Brecht: „Lasst euch nicht verführen, ihr sterbt mit den Tieren, und es kommt nichts nachher.“ Der Dichter wertet den Glauben an die Auferstehung als Verführung, die den Menschen hindert, das pralle Leben zu ergreifen. Für ihn schielt der Glaubende nach dem Jenseits und verachtet darüber das Diesseits, was es durchaus auch gegeben hat im Laufe der Frömmigkeitsgeschichte.

Wenn aber der Gottähnlichkeit des Menschen seine Tiergleichheit entgegengestellt wird, wie Brecht es tat, darf man sich dann wundern, dass der Mensch bald nur noch wie ein Tier geachtet wird, angefangen vom ungebremsten Verbrauch menschlicher Embryonen bis hin zur legalen aktiven Sterbehilfe?

Wenn nach Erich Fried der Mensch ein Hund ist, der stirbt und lediglich die Besonderheit hat, dass der Mensch weiß, „dass er stirbt wie ein Hund“ und „sagen kann, dass er weiß, dass er stirbt wie ein Hund“,  was ist dann anderes zu erwarten, als dass Menschen sich gegenseitig wie Hunde behandeln oder vielmehr so, wie man keinen Hund behandeln sollte?

Christen bekennen sich nicht nur ganz entschieden gegen diese Hoffnungslosigkeit. Auch die Feier der erwachenden Natur kann ihnen nicht genügen. Sie halten sich an Jesus Christus, der kundtut: „Ich gehe hinauf zu meinem Vater und zu eurem Vater, zu meinem Gott und zu eurem Gott.“ Sie vertrauen dem Apostel Petrus, der predigt: „Gott hat ihn am dritten Tag auferweckt. Und sie hören auf die Mahnung des Apostels Paulus: „Ihr seid mit Christus auferweckt.“ Darum strebt nach dem, was im Himmel ist, wo Christus zur Rechten Gottes sitzt.“

Ostern ist das älteste und höchste Fest der Christenheit. Seit der Zeit der Apostel wird es gefeiert. Immer war den Christen diese einzigartige Botschaft existentiell wichtig: Jesus von Nazaret ist nicht im Tod geblieben. Gott hat ihn zu neuem Leben auferweckt. Seitdem brauchen auch wir keine Angst mehr zu haben vor dem Tod. Denn mitten im Tod sind wir vom Leben umfangen, seit Christus auferstanden ist.

Für diesen Osterglauben muss keiner die Realität verlassen und in das Reich der Phantasie und der Wunschvorstellungen fliehen. Ich muss mich nur auf das Zeugnis derer einlassen, die Jesus Christus als den Auferstandenen gesehen haben. Ihr Zeugnis muss ich „nach-denken“. „Er-gründen“, was da bezeugt wird, das heißt, die inneren Gründe aufspüren und alles auf seine Konsequenzen hin erwägen. Und so werde ich zu der gläubigen Gewissheit finden: Ja, es gibt eine endgültige und bleibende Überwindung von Leid und Tod. Unzählige Zeugen stehen dafür.

Im Jahre 1980 beschrieb die britische Ärztin Sheila Cassidy, sie ist inzwischen Benediktinerin, wie sie zum Glauben an den Auferstandenen gekommen ist: Weil sie einen Revolutionär medizinisch behandelt hatte, wird sie 1975 in Chile verhaftet und im Kerker gefoltert. Todesangst kriecht in ihr hoch. Nach einem Verhör voller seelischer und körperlicher Grausamkeit wird sie in eine Zelle verlegt. Dort findet sie eine abgegriffene Bibel. Sie öffnet das Buch und sieht ein Bild, das einen völlig zerschlagenen Menschen darstellt, wie „von Blitz und Donner und Hagel getroffen“. Sofort erkennt sie sich selbst in diesem Menschen, mit ihm kann sie sich in ihrem Elend identifizieren.

Auf den zweiten Blick entdeckt sie in der oberen Bildhälfte eine mächtige Hand, die Hand Gottes über diesem gequälten Menschen, und darunter das Apostelwort: „Nichts kann uns trennen von der Liebe Christi“. Nachdem sie zuerst das Hereinbrechen des Schrecklichen erlebt hat, das sie zerschlagen, ihren Willen brechen will, erfährt sie nach und nach die rettende Hand Gottes: „Nichts kann mich trennen, auch das hier nicht…“
Diese Hand zu ergreifen, wird ihre Wandlung. Zuerst ist es ein inneres Rütteln an den Gitterstäben des Kerkers und der Schrei: „Herr, lass mich frei“. Dann findet sie – unter seelischen Geburtsschmerzen – zur Gelassenheit, mit Jesus Christus zu beten: „Nicht mein Wille geschehe, sondern der Deine.“

Sheila Cassidy berichtet, wie im Prozess dieser Wandlung eine große Freiheit über sie kam. Und eine nie für möglich gehaltene Güte gegenüber den Hassenden. Sie konnte deren Hass als deren Not und Gefangenschaft erkennen.

Später wird sie mit Kommunistinnen in einer Zelle zusammengelegt. Sie hält mit den Leidensgefährtinnen Gottesdienste, teilt mit ihnen die Glaubensgewissheit, „dass diese Freiheit, die wir hinter dicken Mauern hatten, keine Einbildung war, sondern ganz reale Wirklichkeit.“

Sheila Cassidy wurde entlassen. Geblieben ist ihr, dass sie in den Menschen Christus finden kann. Und dass „Menschen, die gezeichnet sind mit dem Kreuz Christi, fröhlich durchs Dunkel schreiten“ können, wie es der britische Politiker und Schriftsteller Gilbert Keith Chesterton formuliert hat.

Es geht bei dieser und ähnlichen Auferstehungserfahrungen nicht in erster Linie um Beispiele menschlicher moralischer Kraftanstrengung. Wäre dem so, könnte man bewundernd davon erzählen und zur Nachahmung aufrufen. Das wäre schon viel, sehr viel! Sheila Cassidy selbst wertet ihre Erfahrung allerdings anders: All das kam nicht aus Kräften, die in ihr steckten, resümiert sie, sondern aus ihrem sich Einlassen auf den Auferstandenen. Wer sich auf ihn einlässt, sucht, „was droben ist“ – und findet es auch.
„Suchen, was droben ist“, ist nun aber keine Devise, die erst dann hervorgeholt wird, wenn die letzte Verzweiflung hereingebrochen ist.

Aufrufe zum Gebet nähren gelegentlich den Verdacht, die Lage sei hoffnungslos. „Da hilft nur noch beten“, sagt der Arzt, wenn er mit seinem Latein am Ende ist. Das Christentum ist aber keine „Katastrophenreligion“, auch wenn es in Stunden der Dunkelheit „taugen“ muss und auch tauglich ist, wie Sheila Cassidy bezeugt.

„Suchen, was droben ist“, diese Aufforderung gilt, seit der Auferstandene gesagt hat, dass er zu seinem und unserem Vater geht. Mit seiner Auferstehung ist der Menschheit als Ganze und jedem Einzelnen ein Weg über diese Welt hinaus gewiesen. Christus ist diesen Weg vorausgegangen. Er will uns alle mitnehmen. Ostern ist sozusagen das „Fest der aufgeschlossenen Tür“.

Dass Sie diese geöffnete Tür finden und als Einladung Gottes verstehen mögen, wünsche ich Ihnen. Ihnen und allen, die zu Ihnen gehören, erbitte ich den Segen des Herrn. „Christus ist auferstanden. Er ist wahrhaft auferstanden.“

Georg Kardinal Sterzinsky
Erzbischof von Berlin