Not sehen und handeln Der Jahresbericht 2022 nimmt besonders die Ukrainehilfen des Erzbistums Berlin in den Blick

Zehntausende Menschen aus der Ukraine flüchten im Frühjahr 2022 vor dem russischen Angriffskrieg, erst ins benachbarte Polen, dann weiter ins angrenzende Erzbistum Berlin. Schon nach wenigen Wochen helfen Tausende. Eine Würdigung.

In der Nacht zum 24. Februar fallen die ersten Bomben auf Kiew, Odessa und Charkiw. Russische Bodentruppen dringen auf breiter Front in die Ukraine ein. Russlands Präsident Wladimir Putin führt offen Krieg gegen das Nachbarland. Während die meisten Deutschen friedlich schlafen, fliehen in der Ukraine Hundertausende gen Westen. Zwei Tage später melden die Vereinten Nationen 120.000 Geflüchtete in Polen, Ungarn, Rumänien und der Slowakei. Auch im Erzbistum Berlin mit seinen vielen Gemeinden an der polnischen Grenze treffen die ersten Ukrainer:innen ein. An den Bahnhöfen von Pasewalk und Frankfurt an der Oder warten Ehrenamtliche, um die Menschen mit dem Nötigsten zu versorgen: Decken, Lebensmittel und Hygieneartikel. Der Berliner Hauptbahnhof wird von Ende Februar bis Mai 2022 zum Epizentrum der Flüchtlingsbewegung. An manchen Tagen steigen dort mehr als 10.000 Menschen aus überfüllten Sonderzügen. Die meisten von ihnen sind Frauen, Kinder und ältere Leute. Als die ersten Züge aus der Ukraine im Erzbistum Berlin eintreffen, rollt eine große Hilfsaktion an – sorgfältig abgestimmt zwischen Bistum, Caritas und katholischer Basis.  

Bahnhofsmission als Hauptquartier

Unzählige Ehrenamtliche empfangen die verzweifelten Menschen auf den Bahnsteigen und organisieren mit Wohlfahrtsverbänden und staatlichen Stellen die Nothilfe. Die Bahnhofsmission von IN VIA verwandelt sich tagsüber in ein Hauptquartier – und abends in ein Hostel. Nacht für Nacht stellt das Team 30 Betten auf: für Schwangere, Mütter mit Kleinkindern und andere, die besonders schutzbedürftig sind. Morgens verschwinden die Betten und es ist wieder Platz für das Tagesgeschäft, Notfallseelsorge und die vielen Freiwilligen, die hier Funkgeräte aufladen und Warnwesten deponieren. „Anfangs war die Bahnhofsmission der wichtigste Player“, berichtet Bernadette Feind-Wahlicht vom Fachbereich „Caritas im pastoralen Raum“. „Aber dann waren ganz schnell auch die Malteser vor Ort, die Caritas, der Sozialdienst katholischer Frauen (SkF)… Die Ukrainehilfe am Bahnhof, das waren alle Wohlfahrtsverbände zusammen! Viele soziale Akteure waren sofort vor Ort, viel schneller als die staatlichen Hilfsstrukturen überhaupt entscheiden konnten.“ Doch als sich die Behörden einschalten, läuft die Zusammenarbeit gut. „Es war ein kleines Wunder“, findet die Sozialarbeiterin rückblickend. Mit den Erfahrungen der Flüchtlingskrise von 2015 in den Köpfen und Herzen wirken Staat, Wohlfahrt und Zivilgesellschaft diesmal von Anfang an zusammen. Am 4. März beschließen die Innenminister der EU erstmals, dass die 2001 eingeführten Regeln für einen „Massenzustrom“ gelten. Das bedeutet: Ukrainer:innen, die vor dem Krieg flüchten, müssen kein Asylverfahren durchstehen, sondern bekommen erstmal Schutz – wenn auch nur auf Zeit. „So konnten wir viel besser Hilfe leisten“, erklärt Feind-Wahlicht. Die Geflüchteten dürfen sofort arbeiten und eigenständig wohnen. Sie haben mehr Zeit, die nötigen Dokumente vorzulegen. „Diese formale, strukturelle Ebene war enorm anders als noch 2015. Sonst hätten wir der Situation auch nicht Herr werden können.“  

Unterstützung für Hilfsbereite

Auch die Verantwortlichen im Erzbistum Berlin reagieren schnell. „Kurz nachdem der Krieg ausgebrochen war, haben wir über Hilfsprojekte informiert und Online-Spenden auf unserer Website ermöglicht“, erinnert sich Uta Bolze, Referentin für Fundraising-Entwicklung. Eins davon war speziell für die „Nothilfe“ in der Pfarrei St. Otto in Pasewalk, an der Grenze zu Polen. „Dort wurde schon geholfen, bevor in Berlin die ersten Geflüchteten angekommen sind.“ Von den Geldern für „Ukraine – Sonderkollekte“ reicht das Erzbistum Berlin die Hälfte der Spenden an Caritas International weiter, die direkt in der Ukraine hilft. „Die andere Hälfte ist für Projekte hier im Erzbistum“, erklärt Uta Bolze, „jeder Euro soll an beiden Orten wirksam werden.“ Doch viele Gemeinden, Pfarreien, Einrichtungen und Verbände wollen nicht nur Geld geben, sondern tatkräftig helfen. Viele tun das spontan. Um die zahlreichen Initiativen abzustimmen, organisiert der Diözesanrat der Katholiken im Erzbistum Berlin am 16. März ein erstes „Treffen der Hilfswilligen“. Viele weitere folgen. Allmählich entsteht eine lange Liste mit Möglichkeiten, wie jede:r am besten helfen kann: mit Notunterkünften, Sachspenden, Fahrdiensten oder Übersetzungshilfen. Alle Unterstützungsangebote und viele Tipps für Hilfswillige werden auf den Ukraine-Websites von Erzbistum und Caritas gesammelt und laufend aktualisiert.  

Arbeitsgruppe Ukrainehilfe

Unterstützung bekommt diese gemeinschaftliche Ukrainehilfe auch von höchster Ebene: das Erzbischöfliche Ordinariat, die Caritas Berlin und der Diözesanrat bilden gemeinsam eine „Arbeitsgruppe Ukrainehilfe“. In ihr treffen sich Vertreter:innen aus Kirchengemeinden, Orten kirchlichen Lebens und katholischen Verbänden und beraten über das, was zu tun ist. „Wichtig ist, dass wir auch in der Arbeitsgemeinschaft nicht von oben herab entscheiden“, betont Sebastian Schwertfeger, aus dem Bereich Pastoral. So seien regelmäßig Fachleute in der Runde zu Gast, etwa aus der stark engagierten Ukrainischen Katholischen Gemeinde oder von der Katholischen Hochschule für Sozialwesen (KHSB), die Geflüchtete bei der Anerkennung von Studienabschlüssen unterstützt. „Sie können uns eine Einschätzung der Lage vor Ort geben“, sagt Sebastian Schwertfeger: „Was wird gebraucht? Wie sieht die Situation in der Gemeinde aus? Das Bistum vernetzt die vielen Helfenden nur und bietet ihnen eine Basis.“ Ein interessanter Nebeneffekt: „Auch Menschen, die mit Kirche sonst nichts am Hut haben, erleben sie bei der Ukrainehilfe als verlässliche Ansprechpartnerin. Sie bauen Kontakt mit einer Gemeinde auf und können sich über sie besser organisieren.“ Das gelte zum Beispiel für viele, die in den ersten Monaten Menschen bei sich aufgenommen haben.  

Wohnung dringend gesucht

„Am Anfang war schnell klar, dass dringend Notunterkünfte gebraucht werden“, erinnert sich Uta Bolze. Das habe richtig gut geklappt. Viele Privatleute in den Pfarreien hätten ihre Häuser und Wohnungen, Gemeinden ihre leerstehenden Dienstwohnungen geöffnet. „Gerade die weiblichen Ordensgemeinschaften haben mit so viel Empathie und Einsatz geholfen – das war großartig“, erzählt Uta Bolze bewegt. „Frauen zwischen 70 und 80 haben sofort gesagt: ,Ja, klar. Wenn Not ist, dann helfe ich.‘“ Die Hedwigschwestern zum Beispiel hätten mehr- mals mehrköpfige Familien aufgenommen, vor allem dann, wenn diese wegen eines kranken Familienmitglieds nicht in die Sammelunterkunft konnten. Auch zwei Jahre nach Kriegsbeginn bleibe die Suche nach Wohnraum ein zentraler Punkt der Ukrainehilfe – „weil nun die meisten ihre Privatquartiere wieder verlassen müssen, weil alle Beteiligten nicht mehr können“. Ebenso dringend für viele der Geflüchteten die Jobsuche. Dazu gehören Sprachkurse, die Anerkennung der eigenen Berufsausbildung und nicht zuletzt ein Kita- oder Schulplatz für die Kinder. Die Arbeitsgemeinschaft Ukrainehilfe gibt es noch immer, aber inzwischen trifft sie sich in großen Abständen. Neue Projekte können weiterhin finanziell unterstützt werden, allerdings sind die meisten Hilfsangebote – etwa Sprachkurse – mittlerweile fest etabliert und werden über reguläre Mittel finanziert. „Der Geldbedarf ist nicht mehr so hoch, weil die meisten Geflüchteten nun über vorhandene staatliche Hilfesysteme versorgt werden“, erklärt Uta Bolze. Zudem haben sich einige Ukrainer:innen schon eine Existenz aufgebaut. Im Frühjahr 2023 hatte rund ein Fünftel der Erwerbsfähigen bereits einen Arbeitsplatz.

Mit offenen Armen

Bereits sechs Tage nach Kriegsbeginn nahmen viele Schulen im Erzbistum Berlin die ersten geflüchteten Kinder auf – unbürokratisch und mit offenen Armen. Die neuen Schüler:innen erhielten psychosoziale Betreuung und Sprachförderung in Deutsch als Zweit- beziehungsweise Fremdsprache. Weitere Angebote wie Freizeitgestaltung, Bibliothek sowie gemeinsame Mittagessen und Pausen zeigten den Kindern, dass sie an ihren neuen Schulen willkommen waren. Viele Ehren- amtliche unterstützten die engagierte Arbeit von Schulleitung, Lehrkräften und Erzieher:innen. Einige Projekte – beispiels- weise die Ferienfreizeit „Ich zeig Dir mein Zuhause“ – wurden vom Frauenverein der Hl. Hedwig gefördert. Durchgeführt wurden die Projekte an den Grundschulen Sankt Ludwig, Sankt Ursula, Bernhard Lichtenberg und Herz Jesu sowie am Gymnasium der St. Marienschule in Potsdam und im Schulzentrum Bernhardinum in Fürstenwalde. Im Sommer 2023 besuchen rund 80 geflüchtete Ukrainer:innen katholische Schulen des Erzbistums Berlin.  

Die Kirche öffnet Türen

Für Kirche und Caritas bleibt genug zu tun, betont Bernadette Feind-Wahlicht und verweist auf einen weiteren Unterschied zur Fluchtbewegung von 2015: Diesmal werden die Angekommenen relativ streng nach dem „Königssteiner Schlüssel“ auf alle Bundesländer verteilt – auch aufs Land. „Da könnte in den nächsten Jahren Sprengstoff drinstecken“, vermutet sie. Im Gespräch mit einem Sozialdezernenten in der Uckermark hat sie von den Sorgen gehört: Wohnraum werde knapp und Kommunen, die bisher gegen Überalterung kämpfen, müssen nun auf junge Familien umschalten. Umso wichtiger seien Möglichkeiten, sich besser kennenzulernen – so wie auf dem Sommerfest im Heiliggeist-Kloster in Neustadt an der Dosse. Dort wohnen Erwachsene mit Behinderungen, aber nun auch eine Gruppe ukrainischer Waisenkinder. „Und sie haben die Türen aufgemacht und gesagt: Jeder darf kommen, jeder darf gucken“, berichtet Bernadette Feind-Wahlicht. „Für viele Leute aus der Nachbarschaft war das die erste Gelegenheit, Ukrainer kennenzulernen.“ Die materielle Versorgung könne auch die Wohlfahrt leisten, aber: „Wir als Kirche können Türöffner sein. Denn darum geht es: um die menschliche Begegnung!

Dies ist ein Schlaglicht aus dem Jahresbericht des Erzbistums Berlin. Den gesamten Bericht samt Geschäftsbericht 2022 finden Sie hier.