Vom Wert der Lebens-Mittel Buchbesprechung „Die Küche der Armen“

300 Rezepte hat die französische Kochbuchautorin Huguette Couffignal in „Die Küche der Armen“ gesammelt und aufgeschrieben, es gibt Rezepte für Brot und Risotto, Gemüse und Pflanzen, Fleisch und Fisch und natürlich Nachspeisen. Und trotzdem ist es ein ganz anderes Kochbuch. Denn bevor es um die Küche der Armen geht, geht es auf knapp 50 Seiten um „Die Armen“ selbst. Und während ich mich sonst gern blätternd von Rezepten inspirieren lasse oder gezielt ein Rezept sucht für die Zucchini aus dem Gemüsefach, die dringend weg müssen, hat mich zunächst diese Einführung gefesselt: Couffignal ist einmal um die Welt gereist und hat an fast allen Orten – in Australien war sie nicht – den Armen in die Kochtöpfe geschaut. Was sie darin findet, ist oft nicht viel und immer wieder auch zu wenig. Es ist vermutlich das einzige Kochbuch, bei dem bei der Lektüre nicht nur das Wasser im Mund zusammenläuft, sondern in dem man auch erfährt, wie die Armen versuchen, ihren Hunger zu ertragen: „Auch wenn man (dem französischen Autor Georges) Bernanos nicht folgen will, nach dem ‚der Bauch eines Armen mehr Illusionen braucht als Brot‘, muss man zugeben, dass, wer nur Brot hat, ohne irgendeine lebensdeutende Philosophie oder Religion, noch ärmer dran ist.“ Auch Drogen beschreibt Couffignal, mit denen das Hungergefühl leichter betäubt werden kann und kommt zu dem Schluss: „Die Armen scheinen übrigens auf allen Breitengraden eine größere Auswahl zwischen Hungertäuschern zu haben als zwischen Nahrungsmitteln. Überall dienen ihnen verschiedene Blätter dazu, das Bauchgrimmen zu vertreiben.“ Dass Leibesfülle – berichtet sie aus China – nicht Fettleibigkeit bedeuten, sondern dass „es sich in Wahrheit um eine Aufschwemmung des Körpers handelte, die sie (Maos Soldaten) ihrer Ernährung aus Gras verdankten. Als sogar dieses Gras knapp wurde, waren die Chinesen gezwungen, ‚gute Erde‘ zu essen, sprich Dreck; Dreck, der zunächst den Hunger einschläferte und dann den Bauch aufblähte und immer weiter aufblähte, bis der Tod durch Ersticken eintrat.“

Der März-Verlag hatte das Buch bereits einmal im Jahr 1978 herausgegeben, beinahe gleichzeitig erschien in Frankreich die „Bibel“ der Nouvelle Cuisine von Paul Bocuse. Paul Bocuse ist nach wie vor in aller Munde, von der Autorin der „Küche der Armen“ weiß der Verlag laut Verlag nur so viel: „Huguette Couffignal schrieb einige Kochbücher, unter anderem ‚J‘aime le Pain‘, die alle in den 1960ern erschienen. Leider konnten wir von der Autorin weder ein Foto noch eine Vita ausfindig machen.“

Und dennoch ist ist „Die Küche der Armen“ das Kochbuch der Stunde und die zweite Auflage eine richtige Entscheidung. Lediglich einige Zahlen und Daten mussten dafür aktualisiert werden. Denn die Armen und den Hunger gibt es immer noch.

Und auch in der aktuellen und teilweise unsäglichen Debatte über den Verzicht auf Fleisch sind wir – namentlich in bayerischen Wahlkampzeiten – noch keinen Schritt weiter. Huguette Couffignal belegt das Grundproblem sehr präzise: „Die Unausgewogenheit der Ernährung wird auch dadurch gefördert, dass man sieben Kalorien aus pflanzlichen Produkten [in Form von Viehfutter, Anm. d. Ü.] braucht, um eine Kalorie tierischer Nahrung zu gewinnen. So kann der gleiche Hektar Boden sowohl einen indirekten Nährwert von 400.000 Kalorien haben, wenn er als Weideland für Kühe genutzt wird, als auch von 25 Millionen Kalorien, wenn man ihn mit Zuckerrüben bebaut, wobei zu dem Kalorienwert der Zuckerrüben noch der ihrer Abfallprodukte zuzurechnen ist.“

Für die Armen stellt sich auch nicht die Frage, ob sie jemand zwingt, Insekten zu essen, oft genug sind sie einfach froh, wenn es überhaupt Insekten gibt. Und vernichtet – durch Aufessen – gleichzeitig Schädlinge, die die Ernte gefährden: „Oft sind die Insekten fester Bestandteil der üblichen Nahrung, meist greift man aber nur in Notzeiten, also bei außergewöhnlichen Gelegenheiten, auf sie zurück. Es wäre wünschenswert, dass man sie öfter verwendet, denn erstens würde man so die Ernte von unerwünschten Mitessern freihalten und zweitens ginge der Nährwert der Insekten nicht verloren. Rohe Wanderheuschrecken enthalten zu 20 % Protein; wenn man sie kocht, steigt der Proteingehalt auf 50 %! Rindfleisch enthält im Vergleich dazu wenig, nämlich 17 %.“
Ähnliches gilt auch für Algen, sofern man in Küstennähe lebt. Bekannt ist es aus der japanische Küche, auch das elaborierte Sushi – mit rohem und in der Regel teurem Fisch – hat eine arme Schwester: „Sushi sind beliebig gefüllte Algen; als Füllsel nimmt man Reiskroketten, die in die Algen gewickelt und mit Weinessig beträufelt werden, oder auch Gemüsewürfel, Eier oder rohen Fisch.“

Nach all dem Grundsätzlichen ist „Die Küche der Armen“ auch ein Buch über die Kunst, einfach zu kochen, wie der Verlag für sein Buch wirbt. Da findet man dann auch alte Bekannte wie Risotto, Mulligatawny, Kürbissuppe oder Österreichische Leberknödel und Borschtsch wieder und gewinnt die Einsicht, dass viele Rezepte aus den Resten oder wenigen einfachen Zutaten entstanden sind. Häufige Verwendung finden auch Grundzutaten, die erst sehr lange gekocht oder geräuchert werden müssen.

Wer arm ist, geht nicht streng nach Rezept vor sondern danach, was da bzw. erhältlich ist: So heißt es nicht nur über Asink „das Nationalgericht der Tuaregs des Ahaggar-Gebirges“: „Das Hirsekorn zwei Stunden in Wasser kochen, bis ein flüssiger Brei entsteht. Das Mehl auf einmal hinzugeben und mit dem Esserui, einem Löffel aus speziellem Holz, ständig rühren. Kochen, bis die Substanz fest wird. Heiß servieren, Milch oder Butter hinzugeben, wenn es welche gibt. Sonst isst man den Asink ohne Zugaben.

Wenn Sie noch ein Kochbuch brauchen, dann dieses. Ich jedenfalls koche bewusster, mit mehr Respekt vor dem Wert der Lebensmittel, und verstehe den Begriff „Lebens-Mittel“ ein wenig besser.

Huguette Couffignal, Die Küche der Armen Mit 300 Rezepten aus aller Welt
Ethnologischer Essay, Reiseberichte und 300 Rezepte
Aus dem Französischen von Monika Junker-John und Helmut Junker.
Mit einem Vorwort von Christiane Meister, hrsg. und überarbeitet von Barbara Kalender
368 Seiten
26,00 EUR
https://www.maerzverlag.de/shop/buecher/sachbuch/die-kueche/