Weihnachten inmitten von Leid

Mahnmal „Tragende“ am Schwedtsee. Hier legten Teilnehmer einer Gedenkveranstaltung am 27. Januar weiße Rosen ins Wasser. Foto: Andrea von Fournier

Schüler lasen am Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus mit Kindern ehemaliger Häftlinge und Innenministerin Nancy Faeser Texte von Überlebenden des Konzentrationslagers Ravensbrück vor.

Fürstenberg an der Havel liegt auf drei Inseln und ist von viel Wasser umgeben. Kleine Häuschen, Blumen in den Fenstern, auf heutige Besucher wirkt die brandenburgische Stadt idyllisch. Durch die gleiche Stadt zogen vor 80 Jahren Frauen der Arbeitskommandos. Mit riesigen Schaufeln auf den Rücken wurden sie aus dem nahen Konzentrationslager Ravensbrück zu ihren Einsätzen getrieben. Die Erinnerungen an Schönes waren bei vielen von ihnen ausgelöscht.

„So schön ist die Erde! Warum gibt es Ungeheuer, die darauf bestehen, sie zu zerstören?“, schrieb die Katalanin Neus Català, die im Februar 1944 nach Ravensbrück deportiert wurde. Kaum jemand, der in dem größten Frauen-KZ der Nazis inhaftiert war, hat diese Zeit je vergessen. Viele der ehemaligen Insassen haben ihre Erinnerungen später mündlich mitgeteilt, in Briefen, Zeitzeugenberichten aufgeschrieben. Sie haben das Ungeheuerliche, das Grauen festgehalten, um zu mahnen, dass es sich nie wiederholen dürfe. Der jungen Generation die Lehren aus der Schreckenszeit der Zweiten Weltkriegs nahe zu bringen, war ihr Ansinnen.

Im ehemaligen KZ Ravensbrück findet am Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus schon seit mehreren Jahren eine Lesung statt. Auch in diesem Jahr lasen hier Menschen verschiedenen Alters, unterschiedlicher Herkunft und Nationalität am 27. Januar aus Erinnerungen und Briefen von Häftlingen. Sie sind an den Ort des Grauens gekommen, um sich und andere zu erinnern. Holger Mieth, Geschichtslehrer der evangelischen Schule St. Marien Neubrandenburg, war zum wiederholten Mal mit Neunt- und Zehntklässlern dabei. Diesmal beteiligten sich 30 Schüler an der „Partizipativen Lesung“.

1944 – ein Jahr der Verzweiflung
Schon zuvor hatte Holger Mieth Texte der Lesung in seinen Geschichtsunterricht zum Thema Holocaust eingebaut. Bei den Lesungen in Ravensbrück sei die Wissensvermittlung noch eindringlicher als in der Schule, sagt er. Wertvoll findet er insbesondere, dass seine Schüler Angehörige ehemaliger Häftlinge erleben, diesmal drei Nachkommen von Frauen, die einst in Ravensbrück gefangen waren.

Die Mädchen und Jungen sind freiwillig hier. Ihre Texte haben sie unmittelbar vor der Lesung zugeteilt bekommen. Auch ein italienischer Gastschüler war unter ihnen. Holger Mieth freute sich, wie gut seine Schüler die Lesung meisterten, trotz ihres Lampenfiebers. Denn im Saal waren neben der Leitung der Gedenkstätte auch Innenministerin Nancy Faeser, Bundestagsabgeordnete, Pressevertreter und Fernsehkameras anwesend. Die Innenministerin las im Wechsel mit den Schülern und den Kindern der Zeitzeugen. Gedenkstättenmitarbeiter Matthias Heyl verband die Texte durch kurze Erläuterungen.

Bei der diesjährigen Lesung stand das Jahr 1944 im Fokus, das für die Ravensbrücker Häftlinge eine Verschärfung des Leids und der Verzweiflung bedeutete. Versorgung und Hygiene im Lager waren katastrophal. Nachdem andere Konzentrationslager an den vorrückenden Kriegsfronten aufgelöst worden waren, gab es ständig Neuzugänge in Ravensbrück. Das Lager war dramatisch überfüllt. Eine Gaskammer wurde gebaut, obgleich Gerüchte über die drohende Niederlage der Deutschen die Runde machten.

„Wir tragen nicht Schuld, aber Verantwortung“
Stille, gedrückte Atmosphäre lag über dem Saal, als die Texte der Zeitzeuginnen verlesen wurden. Die Anwesenden waren mit den Gedanken im stinkenden Riesenzelt bei 2000 Jüdinnen und Sinti. Sie hörten vom Tag und Nacht lodernden Feuer des Krematoriums und vernahmen, dass Weihnachten 1944 für über 1000 Kinder im Lager kleine Feiern organisiert wurden. Dafür brachten sich auch alte Frauen ein, die sich eigentlich schon aufgegeben hatten, erfuhren die Teilnehmer der Gedenkveranstaltung. Sie organisierten Essen, nähten Puppen, bauten ein Kaspertheater. Die österreichische Antifaschistin Lisl Jäger, deren Tochter Brigitta Kauers an der Gedenkveranstaltung teilnahm, hat ihr oft von dieser Feier erzählt - und davon, dass man die Kinder nicht retten konnte, die wenige Wochen später, im Februar 1945, in den Tod nach Bergen-Belsen geschickt wurden.

„Ich finde es gut und wichtig, dass Jugendlichen früh davon berichtet wird“, sagte die Schülerin Luise nach der Lesung. Ihre Mitschülerin Hannah ergänzt: „Meine Tante sagt, ‚Wir tragen zwar nicht die Schuld, aber die Verantwortung, dass es nie wieder passiert‘.“ Nach der Lesung gingen die Besucher ans Ufer des Schwedtsees und legten weiße Rosen auf das Wasser.