Kardinal Woelki zum "Vorhof der Völker"
In diesen Tagen kommen in Berlin zahlreiche „helle Köpfe“ („Brights“) zusammen, Geistes- und Naturwissenschaftler sowie Künstler, darunter Gläubige wie Ungläubige. Zur Diskussion steht ein spannendes Thema: unsere Freiheit. Die Initiative trägt den Namen „Vorhof der Völker“. Sie fügt sich ein in die bewährte Tradition Berliner Debattenkultur. Denn unabhängig davon, ob wir glauben oder nicht, kommt der Freiheitserfahrung in unserer Stadt große Bedeutung zu: So wurde der Mauerfall für viele Menschen zu einem historischen Freiheitserlebnis. Genauso erfahren wir uns im Alltag als frei oder unfrei: „Ich bin frei/will, dies oder jenes (zu) tun“. In all diesen Fällen meinen wir unsere Handlungs- oder Willensfreiheit. „Stimmt nicht“, sagt die Gegenseite, die Deterministen: „Alles ist vorherbestimmt“. Diese Weltsicht ist mit einem freien Willen und persönlicher Verantwortung unvereinbar. Wir sehen: Die Freiheitsfrage bewegt die Gemüter der Menschen.
Schon Paulus hat in Athen auf dem Areopag seine Überzeugung kundgetan, dort, wo Zeitgenossen leidenschaftlich um die großen Fragen des Lebens sowie von Gesellschaft und Politik rangen. Mein Bischofsspruch lautet: „Wir sind Zeugen“. Paulus verstand sich als ein solcher Zeuge. Er scheute nicht das Gespräch, als er damals den Menschen seine Hoffnung skizzierte – die Hoffnung auf ein ewiges Leben bei Gott dank der Auferstehung Jesu Christi. Die Reaktionen waren ganz verschieden. Es gab Gelächter. Es gab aber auch diejenigen, die etwas in dieser Botschaft vorfanden, das sie faszinierte und hoffen ließ. Dies ist bis heute die Grundmotivation von Christen: Menschen ein Angebot zu unterbreiten, das ihnen eine Hoffnungsperspektive schenkt. Es geht um ein echtes „Mehr“, welches sich nicht rein materiell messen lässt. Den Blick offenzuhalten für Gott, für die transzendente Dimension der gesamten Wirklichkeit, bleibt die erste und genuine Berufung von Christen. Sich dabei an alle Menschen zu wenden, liegt begründet im Glauben an einen Gott, der die Sonne über Guten und Bösen – also allen Menschen – aufgehen lässt (vgl. Mt 5, 45), sowie der Verknüpfung von Gottes- und Nächstenliebe. Für Christen gehören beide Dimensionen zusammen, selbst wenn sie hinter diesem Anspruch bisweilen zurückbleiben. Dennoch vertrauen sie, dass die Liebeszusage Gottes allen gilt: „Er will, dass alle Menschen gerettet werden und zur Erkenntnis der Wahrheit gelangen“ (1 Tim 2, 3). Der Heilszuspruch verbindet sich für sie damit ganz konkret mit der Frage nach der Wahrheit.
Ich weiß: Die Frage nach der Wahrheit ist wie die Frage nach der Freiheit eines der ganz großen Themen unserer Geistesgeschichte. Und vermutlich stehen heute beide Gruppen, Gläubige wie Atheisten, vor der gleichen Herausforderung, wie schon Nietzsche spitz bemerkte: „dass auch wir Aufklärer, wir freien Geister des 19. Jahrhunderts, unser Feuer noch von dem Christenglauben nehmen, der auch der Glauben Platons war, dass Gott die Wahrheit, dass die Wahrheit göttlich ist“. Und gerade deswegen bleibt es so wichtig, über die großen Fragen der Menschheit miteinander im intensiven Gespräch zu bleiben. Wir Christen tun dies aus der Überzeugung heraus, dass sich in der 2000-jährigen Geschichte des Christentums Antworten auf diese großen Fragen finden, auf die Fragen nach Freiheit, nach Liebe, nach dem Ursprung des Böses, der Herkunft und dem Ziel des Menschen usw. Gerade in einem postmodernen Kontext geht es hier auch um Glaubwürdigkeit und Wahrhaftigkeit – im Dialog mit Wissenschaft, Kunst und Politik; offenbart sich doch die göttliche Vernunft in all diesen Bereichen. Glauben und Vernunft bedingen einander.
Wo der Blick auf den Himmel verlorengeht, wächst die Gefahr für den Menschen. Der menschengemachte Himmel des 20. Jahrhunderts erwies sich allzu oft als Inferno. Eine Welt ohne Gott wäre also nicht unbedingt behaglicher. Die unschuldigen Opfer der Geschichte kann kein Mensch auferwecken. Christen glauben, dass auch diese Opfer ein versöhnliches Ende erfahren dürfen, dass Not, Leid und Tod nicht das letzte Wort haben. Dieser Blick fehlt einer rein innerweltlichen Perspektive, ist ihr „blinder Fleck“. Und umgekehrt bedarf der Glauben der Vernunft, soll der Glaubende nicht der Versuchung von Fundamentalismus oder Sektierertum unterliegen. Zweifel? Auch die kennen Christen. Schon damals hegte etwa mancher Apostel Zweifel an der Auferstehung Jesu. Zweifel kommen uns heute, wenn wir etwa Nöte und Leiden sehen und erfahren. Hiobs Echo bleibt auch im 21. Jahrhundert weithin hörbar.
Zweifel halten Christen jedoch nicht davon ab, christliche Nächstenliebe konkret zu leben. In unserer Stadt geschieht dies an vielen Orten: in Pfarreien, in Einrichtungen der Caritas, in Krankenhäusern und Ausbildungsstätten. Dort ereignet sich Begegnung, dort wächst Vertrauen untereinander in der Offenheit gegenüber allen Menschen. Christen sind nicht einfach nur nette Menschen, sie verstehen sich vielmehr als „neue Menschen“, die einen anderen Blick mitbringen wollen. „Seid stets bereit, jedem Rede und Antwort zu stehen, der nach der Hoffnung fragt, die euch erfüllt“ (1 Petr 3, 15). Das gilt gleichermaßen für Theorie und Praxis.
Ich hoffe, Initiativen wie der „Vorhof der Völker“ zeigen Wirkung über diese Tage hinaus. Dass wir gemeinsam ringen um die Würde des Menschen, seine unveräußerlichen Freiheitsrechte, im Bemühen um weltweiten Frieden, im Kampf gegen Armut und Hunger, im Blick auf den Umgang mit Flüchtlingen oder mit unserem Planeten und seinen Ressourcen. Mehr Zusammenarbeit ist möglich und notwendig für ein gutes und friedvolles Miteinander. Das gegenseitige Zuhören, das miteinander Sprechen hilft uns allen, selbst wenn im Diesseits leidenschaftlich gerungen und gestritten wird. Das Jenseits ist sowohl für Gläubige als auch Ungläubige tröstlich: Im Himmel bedarf es nämlich keines Glaubens mehr, denn dann werden wir sehen, wie Gott ist (vgl. 1 Joh 3, 2).