BZ-Kolumne

Wir sind und bleiben Lernende

Als Erzbischof habe ich viele Ratgeber. Wenn ich an einer Demonstration für den Schutz des ungeborenen Lebens teilnehmen will, sagen sie: „Da können Sie auf gar keinen Fall hingehen, da gehen doch rechtsradikale Gruppen mit.“ Und wenn ich zu einer Demonstration gegen Rechtspopulismus gehen will, heißt es: „Herr Erzbischof, auf gar keinen Fall! Da gehen auch linksradikale Gruppen mit!“ Ich soll also abwarten, bis alles „stimmt“, nur dann hingehen, wenn die Thesen unanfechtbar, die Redner ausgewogen und die Parolen genügend differenziert sind.

Dann kann ich auch gleich zuhause bleiben, weil keine Protestkundgebung all diese Ansprüche erfüllt. Entweder 100 Prozent richtig oder es geht gar nicht – das ist ein Leitmotiv, das nur in einer Welt funktioniert, die aus Schwarz und Weiß besteht.

Zum Glück leben wir nicht in solch einer Welt. Denn vieles ist nicht so klar, wie wir es gerne hätten. Trotzdem müssen Entscheidungen gefällt werden. Manchmal aus dem Bauch heraus. Das ist nicht immer das Schlechteste. Aber viele große Entscheidungen trifft man besser rational und dialektisch. Ich kann immer nur nach bestem Wissen und Gewissen abwägen, die mir erkennbaren Konsequenzen bedenken und dann nach erfolgter guter Erörterung und Beratung zu verantwortungsbewussten Entscheidungen kommen. Diese sind ja gerade deshalb so schwierig, weil jede Entscheidung immer auch eine Entscheidung gegen andere Aspekte, Möglichkeiten und Argumente ist.

Wir müssen wieder mehr versuchen, in Entscheidungsprozessen die Ambivalenzen auszuhalten und dürfen die eine Seite nicht gegen die andere ausspielen. Bei alldem gilt: Wir sind und bleiben Lernende. Wer zu lernen bereit ist, weiß, dass weder der einzelne Mensch noch die Gesellschaft noch die Welt oder die Kirche perfekt waren, sind oder sein werden.