BZ-Kolumne

Streben nach Geschwisterlichkeit

Jedes Jahr feiern die Franzosen am 14. Juli ihren Nationalfeiertag. Ein Tag des gemeinsamen Erinnerns und der gemeinsamen Hoffnungen, ein Tag der allen Bürgern Gelegenheit bietet, sich um die Devise der französischen Republik zu vereinen: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Ein Ideal, das mich gerade in der aktuellen Situation nachdenklich stimmt, ein Ideal, das schwer erreichbar zu sein scheint. Die immer größer werdenden Unterschiede zwischen Arm und Reich, die Spaltung der Gesellschaft hinsichtlich der Corona-Pandemie, die Teilhabe von Menschen mit Behinderungen im Lebensalltag oder die Integration von Flüchtlingen – das sind nur einige Beispiele, die schnell aufzeigen, wie weit entfernt unsere Gesellschaft von diesem Leitspruch ist.

In seinem Schreiben „Fratelli Tutti“ („Über die Geschwisterlichkeit und soziale Freundschaft“) hat Papst Franziskus im Oktober des letzten Jahres den Wunsch formuliert, „dass wir in dieser Zeit, die uns zum Leben gegeben ist, die Würde jedes Menschen anerkennen und bei allen ein weltweites Streben nach Geschwisterlichkeit zum Leben erwecken.“ Es ist der Aufruf, Sorge füreinander zu tragen, nicht gleichgültig zu sein, wenn ein anderer Mensch in Not ist oder eine gesellschaftliche Gruppe nicht teilhaben kann.
Ganz zu Beginn des Alten Testaments lässt uns die Geschichte von Kain, der seinen Bruder Abel erschlägt, fast ratlos zurück und es stellt sich die Frage: Was ist eigentlich Brüderlichkeit? Die familiäre Zugehörigkeit oder das Verhalten? Diese Geschichte zeigt uns auch die Herausforderung zwischenmenschlicher Beziehungen von Beginn der Menschheit an: Kain tötet nicht nur seinen Bruder, sondern will sich auch der Verantwortung dafür entziehen.

Aber mit der uns geschenkten Freiheit ist der Mensch dazu in der Lage, Verantwortung füreinander zu übernehmen und füreinander Sorge zu tragen – in geschwisterlicher Brüderlichkeit.