Liebe Schwestern und Brüder!
Von Herzen wünsche ich Ihnen eine gesegnete Fastenzeit!
»Deus semper maior« – Nicht wenigen unter Ihnen wird diese Wendung noch als der Wahlspruch meines Vorgängers, Georg Kardinal Sterzinsky, geläufig sein. In drei knappen lateinischen Worten wird hier eine Grunderkenntnis formuliert, welche alle Gottgläubigen seit Anbeginn umtreibt: Gott ist immer größer als das, was wir uns von ihm vorstellen, größer auch als das, was wir glauben, von ihm zu verstehen. Wir geraten schnell an die Grenzen unseres Denkvermögens, wenn wir versuchen, uns die klassischen Eigenschaften Gottes zu vergegenwärtigen, die Allmacht, seine Allwissenheit und seine Allgüte: Das Wesen Gottes übersteigt unser Fassungsvermögen.
Das Theodizee-Problem, also die Frage dem Leid in der Welt, entspringt genau dieser menschlichen Begrenztheit: Wie kann ein allmächtiger und allwissender Gott das Böse zulassen, wenn er doch zugleich gut ist und barmherzig? Auf diese Frage gibt es für uns keine befriedigende, alles erklärende Antwort, jedenfalls nicht auf Erden: Denn als Geschöpfe stehen wir innerhalb der Schöpfung, und können mit unserer Vernunft nur erfassen, was innerhalb der Ordnung dieser Schöpfung steht. Gott aber ist größer, er steht zugleich inner- wie außerhalb der geschaffenen Ordnung. Das Außerhalb aber bleibt unserer Erkenntnis verschlossen. Allenfalls erahnen können wir es als fernen Abglanz.
Gottes Größe entzieht sich uns.
In unserer Sankt Hedwigs-Kathedrale in der Mitte Berlins, welche im vergangenen November feierlich wiedereröffnet wurde, stehe ich gerne unter der hohen weißen Kuppel, wo das Licht aus der Höhe sacht und gleichsam aufstrahlend auf die Menschen herniedersinkt. Den Himmel hinter dem Gewölbe kann ich nicht sehen von dort, wo ich stehe, nur erahnen durch die kleine Öffnung des Opaion weit über mir. Noch weniger kann ich diesen Himmel etwa greifen oder gar erreichen. Diese steinerne Begrenzung der Kuppel verdeutlicht, was es heißt, eingebunden zu sein in die Schöpfung: Das Licht hat dasselbe Wesen, drinnen wie draußen, aber ich kann trotzdem nur jenen Bereich überblicken, in dem ich mich aufhalte. Der Blick auf das Außen ist uns nicht eröffnet: Er gehört allein zur Größe Gottes.
Diese Erkenntnis ist uns Christinnen und Christen wahrlich nicht als einzige gegeben: Viele Religionen der Welt – und insbesondere unsere abrahamitischen Brüder und Schwestern im Judentum und Islam – teilen mit uns das Wissen um die Größe, die Erhabenheit und die Unnahbarkeit des Schöpfers.
Wenn Mose angesichts des brennenden Dornbuschs sein Gesicht abwendet (Ex 3,6), wenn in den Zehn Geboten Gottes Name dem menschlichen Zugriff entzogen werden soll (Dtn 5,11), dann ist dies begründet in der uralten Erkenntnis von der Größe und Unfassbarkeit Gottes, die alles menschliche Begreifen übersteigt.
Die nüchterne Neugestaltung von Sankt Hedwig mit der nur spärlichen bildlichen Ausgestaltung ist mitunter kritisiert worden. Aber ich glaube, dass es uns Menschen gut tut, die Unbegrenztheit Gottes nicht allzu leichtfertig in den engen Rahmen unserer Abbilder, Denkschemata und Vorstellungswelten einhegen zu wollen. Oft dagegen ist es notwendig, sich demütig seiner Unverfügbarkeit zu stellen.
Gott in seiner Größe aber entäußerte sich und wurde klein.
Als Christinnen und Christen glauben wir nicht nur an einen Gott, der größer ist als unser Vorstellungsvermögen, sondern zugleich auch an den Gott, der sich viel kleiner gemacht hat, als wir ihn uns oft vorstellen mögen. In seiner Menschwerdung nämlich hat Gott freiwillig auf seine unnahbare Größe verzichtet: In Jesus Christus »entäußerte er sich und wurde wie ein Sklave und den Menschen gleich. Sein Leben war das eines Menschen«, wie es im Hymnus des Philipperbriefes schonungslos heißt (Phil 2,7).
Dessen sinnfälliges Zeichen in unserer Kathedrale ist der in den Mittelpunkt gerückte Altar: Dort – auf dem Boden der Welt – versammeln wir Menschen uns um Christus, werden zu Zeuginnen und Zeugen seines Opfers, seiner Hingabe und seines Auferstehens, wie schon die Menschen vor 2000 Jahren, als sie am Kreuz standen oder dem Auferstandenen von Angesicht zu Angesicht begegneten.
Das erste ökumenische Konzil von Nizäa, dessen 1700-jähriges Jubiläum wir in diesem Jahr begehen, beruht im Grunde auf einem Streit um das Verständnis dieser Aussage über Gott. Für unsere Glaubensbrüder und -schwestern des Jahres 325 war es alles andere als selbstverständlich, von Jesus Christus als dem fleischgewordenen, dem Mensch gewordenen Gott zu sprechen: Die vielen damaligen Anhänger eines ägyptischen Priesters mit Namen Arius hielten die Vorstellung sogar für undenkbar, Gott wäre wirklich Mensch geworden oder hätte am Kreuz gelitten. Für sie war Jesus eine Art Halbgott oder auch nur ein von Gott besonders herausgehobener Mensch. Die Arianer konnten Gott nicht klein denken: Sie beharrten auf seiner unnahbaren Größe.
Gott aber machte sich klein, so bezeugt es das Glaubensbekenntnis von Nizäa, das wir seit 1700 Jahren als Christen gemeinsam bekennen.
Arius irrte sich: Gott wählte mit Jesus nicht einfach einen Menschen aus, den er dazu berief, für andere nur ein Vorbild zu sein, oder einen Sündenbock, den er am Ende am Kreuz opferte. Durch Jesus lässt er nicht nur sprechen, lässt er nicht nur vergeben, lässt er nicht nur heilen oder sterben. Gott persönlich tritt uns als Jesus der Christus entgegen, als wahrer Gott und wahrer Mensch zugleich. In Christus spricht, vergibt, heilt und stirbt Gott persönlich.
Der christliche Gott ist ein Gott der Beziehung und der Liebe zu seinen Geschöpfen.
Mit Recht also verwarf das Konzil von Nizäa die arianische Lehre als das, was sie war: ein vielleicht fromm anmutender, aber dennoch: ein Irrtum. Im ersten gesamtchristlichen Glaubensbekenntnis versuchten die Konzilsväter dagegen, das göttliche Wesen Christi in Worte zu fassen, welche auch für uns heute immer noch kaum begreifbar sind:
Gott von Gott, Licht vom Licht,
wahrer Gott vom wahren Gott,
gezeugt, nicht geschaffen,
eines Wesens mit dem Vater.
(aus dem großen Glaubensbekenntnis)
Dieser Gott neigt sich aus großer Höhe nicht nur herab. Nein! Er lebt mitten unter uns, auch heute. Mit irdischem Wasser lässt er sich taufen (Mt 3,13-17), mit der Hochzeitsgesellschaft in Kana teilt er unsere irdischen Freuden (Joh 2,1-12), zusammen mit Maria und Martha weint er und teilt unsere irdische Trauer (Joh 11,33-36), gemeinsam mit den Jüngern betet er zum himmlischen Vater und teilt die irdischen Ängste und Hoffnungen (Mt 6,9-13), und in seiner Geburt und seinem Sterben teilt er mit uns das allverbindende Schicksal des Menschen. Gott also macht sich klein für uns! Er will bei uns sein und mit uns unseren Lebensweg gehen, Tag für Tag, mit all seinen Höhen und Tiefen.
Und doch hat Jesus Christus in seinem irdischen Leben sehr deutlich gemacht, dass Gott größer ist: Da nämlich, wo er menschliche Schwachheit überwindet. Unüberbietbar vor allem in der Auferstehung. Aber auch da, wo er uns ein Beispiel gibt, über uns hinauszuwachsen: Wo Menschen andere ausgrenzen, berührt er die Leprakranken und heilt (Lk 5,12-16). Wo andere nicht verzeihen können, wie bei der Ehebrecherin, durchbricht er die giftigen Konventionen der Menschheit (Joh 8,1-11). Groß ist Christus vor allem da, wo sich die Liebe und Hingabe Gottes zu uns zeigt.
Mit Gott also sollen wir uns als größer und kleiner erweisen.
Als größer, das heißt unter anderem: dass wir beginnen, als Pilgerinnen und Pilger der Hoffnung glaubwürdige Zeugen unseres Glaubens an Gott zu sein, der uns stärkt und unserem Leben Größe und Würde, Richtung, Erfüllung und Heil schenkt, wie es uns Papst Franziskus in diesem Heiligen Jahr zuruft. Größer, indem wir mutig unsere Kräfte einbringen im Dienst für die Aussätzigen unserer Tage, die an den Rand Gedrückten und Verfolgten, und für all die, denen Größe und Würde in dieser Welt abgesprochen werden. Größer wollen wir sein als die vermeintlich Großen der Welt, die es nur deshalb sind, weil sie andere unterdrücken und in den Staub treten. Größer wollen wir sein, indem wir darauf verzichten, andere klein zu machen! Und nicht zuletzt größer wollen wir sein als jene, die behaupten, unsere kleine Welt und unsere beschränkten Sichtweisen seien umfassend und mehr gäbe es nicht.
Wir wissen um das Größere, wir glauben an den stets größeren Gott, in dessen guten Händen wir ruhen, und auch wir wollen groß sein, immer wieder neu, in unserem Glauben, unserer Hoffnung und unserer Liebe.
Aber auch kleiner wollen wir sein, indem wir demütig zugeben, dass wir in vielen Lagen eine Lösung nicht kennen; indem wir bescheiden bleiben im Erfolg; indem wir anerkennen, dass wir nichts aus uns selbst vermögen; indem wir ehrlich zu erkennen geben, dass wir nicht zum Herrschen berufen sind, sondern zum Dienen.
Vor allem aber sollen wir darauf verzichten, die unverfügbare Größe Gottes an unserer irdischen Kleinheit zu messen. Vielmehr wollen wir dem himmlischen Vater dort begegnen, wo er selbst uns entgegenkam und immer wieder aufs Neue entgegenkommt: In Jesus Christus und seinen Sakramenten, hier, auf dem Boden der Welt!
Aus diesem Geist der Größe in Demut und aus der christlichen Hoffnung auf Stärke, die in den Schwachen mächtig wird (2 Kor 12,10), wünsche ich Ihnen und allen Menschen, mit denen Sie in Ihrer Familie und in Ihrem privaten Umfeld, im Beruf, in Kirche und Gesellschaft verbunden sind, Gottes reichen Segen für die vor uns liegende Vorbereitungszeit auf das Osterfest.
Heiner Koch
Erzbischof von Berlin