Liebe Schwestern und Brüder,
als das Manuskript für mein Hirtenwort entstand, stand ich noch ganz unter dem Eindruck der Corona-Pandemie: So viele Menschen, um die wir uns gesorgt, so viele Menschen, die wir betrauert haben. Wie viele sind gestorben! Wie viele schwer erkrankt! Wie viele haben unter den Kontaktbeschränkungen gelitten! Wie viele Auseinandersetzungen hat es über die Bedeutung des Testens und Impfens gegeben! Doch Tag für Tag sah ich mehr Grund zur Hoffnung, steigende Impfquoten, sinkende Inzidenzen, keine Überlastung der Intensivstationen.
Der Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine zerstörte die aufkeimende Hoffnung: die Wüstenzeit, der steinige Weg ist noch nicht zu Ende, im Gegenteil:
Wir sind in Gedanken, im Gebet und im Herzen mit den Menschen in der Ukraine verbunden, die die Wüstenzeit ihres Lebens erleiden. Und wir sind mit denen verbunden, die es wagen, die Russland ihre Stimme gegen das Unrecht zu erheben und dafür ihre Freiheit riskieren. Gott bleibe ihnen und allen, die sich für den Frieden einsetzen, nahe!
Brot vom Himmel, Wasser aus dem Stein
In der ersten Lesung des ersten Fastensonntags haben wir gehört, wie das auserwählte Volk Israel seinen Glauben bekennt. Im Mittelpunkt steht darin die große Wüstenzeit, durch die es hindurch gehen musste, 40 Jahre lang. Von den Schreien ist da die Rede, die Gott gehört hat, von Rechtlosigkeit und unerträglicher Arbeitslast, von der Bedrängnis, die den Herrn dazu bewegt, sein Volk aus Ägypten heraus in die Freiheit zu führen. Das Ziel des Exodus ist »das Land, in dem Milch und Honig fließen«.
Und davor? Von dem Davor berichten zwei biblische Wundererzählungen, die, wie wir gleich sehen werden, gut zum Evangelium passen, aber auch zur Gestaltung von Ambo und Altar in unserer Sankt Hedwigs-Kathedrale, mit der ich Sie heute in einem Aspekt vertraut machen will.
Die Israeliten leiden in ihrer Wüstenzeit Hunger und Durst. Es fehlt ihnen am Allernötigsten. Die grundlegendsten Bedürfnisse werden nicht befriedigt. So wächst in ihnen trotz der so teuer erkauften Freiheit die Sehnsucht, in die bequeme Unfreiheit Ägyptens zurückzukehren. Sie beginnen zu »murren«, wie es in der Heiligen Schrift heißt. Wie gut kennen wir dieses Murren, das in Zeiten der Bedrängnis immer lauter wird. Wir haben erlebt, wie die vielstimmigen Klagen den Zusammenhalt der Gesellschaft gefährden können. Aber gerade dieser Zusammenhalt ist die Grundvoraussetzung, um in den Bedrängnissen der Wüste zu überleben. Da lässt Gott Brot regnen. Das Manna aus dem Himmel stillt den Hunger. Und wenig später lässt er aus dem toten Felsen Wasser sprudeln. Das Wasser aus dem Stein stillt den Durst (vgl. Ex 16f). Das Volk Israel kann seinen Weg durch die Wüste fortsetzen. Die Wüste wird zum Ort des Lebens. »Uns fällt ein Stein vom Herzen!«, mögen die Israeliten damals gedacht haben. Aber das eigentliche Ziel ihrer Pilgerschaft, so mussten sie bald lernen, war noch lange nicht erreicht.
Steine zu Brot?
Die Erzählung des Evangelisten Lukas über die Wüstenzeit, die Jesus zu Beginn seines öffentlichen Wirkens durchlebt, greift die Begebenheit der Wüstenzeit des Volkes Israel auf und übertrifft sie zugleich. Denn der Teufel stellt Jesus nicht etwa nur die Aufgabe, wie Gott aus dem Himmel Brot oder aus der Erde Wasser hervorgehen zu lassen. Er fordert ihn heraus, die beiden alttestamentlichen Wüstenwunder, das eine, in dem das Brot vom Himmel regnet, und das andere, in dem Wasser aus dem Stein entspringt, zu kombinieren. Diese beiden Wunder sollen durch ein neues Wunder überboten werden: »Wenn du Gottes Sohn bist, so befiehl diesem Stein, zu Brot zu werden« (Lk 4,4). Aber Jesus durchschaut die Versuchung, die darin besteht, sich als Sohn über den Vater zu stellen. Und er erkennt zugleich die Versuchung, durch diese Ablenkung sein eigentliches Ziel aus dem Blick zu verlieren. Die Antwort Gottes auf das Zuwenig in unserem Leben ist ja eben nicht das Geradegenug, die Befriedigung unserer notwendigsten Bedürfnisse, sondern die Fülle des Lebens! Das Ziel der Israeliten, als sie aus Ägypten auszogen, war nicht die Wüste, sondern »das Land, in dem Milch und Honig fließen«. Und das Ziel der Verkündigung Jesu, seines Lebens, Leidens und Sterbens, war nicht ein neues politisches System, eine weitere Gesellschaftsutopie, sondern das Reich Gottes, das schon mitten unter uns anbricht.
Hineingenommen in den Stein des Altares
»Mir fällt ein Stein vom Herzen« – das sage ich heute auch, wenn ich an den Umbau unserer Sankt Hedwigs-Kathedrale denke. Am kommenden Fronleichnamstag im Juni werden wir einen weiteren, wichtigen Schritt auf diesem Weg tun. Ich lade alle Gläubigen aus unserem Erzbistum – aus Vorpommern, Sachsen-Anhalt, Brandenburg und Berlin – ein, an diesem Tag Steine aus ihren Gemeinschaften, Gemeinden und Pfarreien zum Fronleichnamsgottesdienst vor der Sankt Hedwigs-Kathedrale mitzubringen. Aus ihnen sollen Ambo und Altar gebaut werden, die die Mitte in unserer neu gestalteten Kathedrale und damit die Mitte unseres Bistums bilden werden. Diese Steine, die wir in die Mitte bringen, werden sich gleichsam zu einem großen Ganzen vereinigen. So werden wir sinnbildlich im Altar unserer Kathedrale, dem Mittelpunkt unseres Erzbistums, zusammengefügt und damit in Christus, der in der Mitte steht. Für ihn ist der Altar ein Symbol. Jesus Christus ist in unserem Glauben der eigentliche Altar. Er hat sein Leben für uns alle hingegeben; er ist unser Altar, auf dem – wie damals am Gründonnerstag und Karfreitag so heute – Jesus selbst sein Leben für uns in Liebe teilt und hingibt. Deshalb grüßt ihn der Priester am Beginn der Eucharistie mit dem Altarkuss. Deshalb wird in feierlichen Gottesdiensten der Altar und in ihm Jesus Christus mit Weihrauch geehrt.
Wir bieten in den Steinen, die wir mitbringen, uns selbst an in all unserer Mangelhaftigkeit, unserer Begrenztheit, unserer Hilfsbedürftigkeit, unserem Hunger und Durst nach Gerechtigkeit, mit unseren Geschichten und Schicksalen, in unserer ganzen Wüstenexistenz, damit uns Christus als lebendige Steine einfügt in den Altar, der er selbst ist. In den Altar, der Ort und Zeichen seiner Liebe und Hingabe ist. »Nicht aus behauenen Quadern« (Ex 20,25) wird er gebaut, sondern aus uns selbst als »unbehauenen« Steinen, mit allen Ecken und Kanten. So wird der Altar zum Symbol unseres Zusammenhalts. Mehr noch: zum Symbol unserer Gemeinschaft in Christus. Wir geben unsere »Herzen von Stein«, damit Gott uns »Herzen von Fleisch« schenke und seinen Geist in uns lege (Ez 36,26f). Wir geben uns in Christus hinein und er nimmt uns auf. So wird der Altar zu einem Symbol für unsere Gemeinschaft untereinander und mit Gott. Wir selbst bilden den Altar, auf dem sich immer wieder neu das große Wunder der Eucharistie, die Wandlung von Brot und Wein in den Leib und das Blut Christi, ereignen kann und wird. So wird der Altar zum Ort des Lebens, des Lebens in Fülle. So wird jede und jeder von uns selbst zum Symbol für Christus. »Denn wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen« (Mt 18,20). Wir bieten Steine an, aus denen wir Ambo und Altar bauen, um Christus am Tisch des Wortes und am Tisch des Brotes zu empfangen. Wir bieten uns selbst und unseren menschlichen Leib an, um Christus aufzunehmen.
Liebe Schwestern und Brüder,
nutzen wir diese Fastenzeit, um im Verzichten neu zu lernen, woran es uns wirklich mangelt. Um uns zu öffnen auf Gott hin, der immer größer ist als unsere kleinliche Enge und Beschränktheit. Mögen uns in dieser Fastenzeit Steine von den Herzen fallen, aus denen wir, wenn wir sie zusammentragen, zum Volk Gottes geformt werden, das viele Gesichter hat, zum Leib Christi, der viele Glieder hat, und zum Tempel des Heiligen Geistes, der aus vielen Steinen besteht.
Ich lade Sie ein: Bringen Sie sich und Ihre Steine am 16. Juni mit zum Bebelplatz! Ich freue mich auf unsere gemeinsame Fronleichnamsfeier.