In einem Schreiben an alle Pfarrgemeinden im Erzbistum Berlin bietet Erzbischof Koch dort, wo Täter im Zuge der Veröffentlichung des Gutachtens zu sexualisierter Gewalt mit Klarnamen genannt oder identifiziert wurden, den Pfarreien Unterstützung bei der Aufarbeitung an. Denn - so Koch weiter- es sei damit zu rechnen, dass Dynamiken entstehen, die die Seelsorge und Arbeit in der Gemeinde belasten: „In jedem Fall stehen Sie vor der Frage: Wie gehen wir als Gemeinde mit diesem (neuen) Wissen um?“
Erzbischof Koch bietet an, persönlich in die Pfarrei bzw. Gemeinde zu kommen, „um gemeinsam mit Fachleuten aus Intervention, Aufarbeitung und Prävention mit Ihnen und interessierten Gemeindemitgliedern ins Gespräch zu kommen.“
Es soll ein geschützter Raum für offenen Austausch angeboten werden, um sich den Emotionen und Fragen zu stellen, Schuld bzw. Pflichtverletzungen von Verantwortlichen und daraus resultierende Konsequenzen zu benennen und möglichen (weiteren) Betroffenen Hilfe anzubieten und Ansprechpersonen zu nennen.
Die externen Ansprechpersonen des Erzbistums, Dina Gehr Martínez und Torsten Reinisch stehen zur Begleitung der Gespräche zur Verfügung.
Termine stimmt die Interventionsbeauftragte RAin Birte Schneider ab.
Wir dokumentieren hier den vollständigen Text des Schreibens:
„Sehr geehrte Damen und Herren in den Kirchenvorständen, Pfarrei- und Pfarrgemeinderäten, liebe Mitbrüder,
die Veröffentlichung von Teil C des Gutachtens „Sexueller Missbrauch an Minderjährigen durch katholische Priester, Diakone und männliche Ordensangehörige im Bereich des Erzbistums Berlin seit 1946“, die wir Ende Juni als weiteren Schritt der Aufarbeitung vorgenommen haben, hat bei vielen von Ihnen und bei Gemeindemitgliedern möglicherweise starke – auch unterschiedliche - Emotionen ausgelöst:
- Wut auf die Täter
- Trauer und Mitleid mit den Betroffenen
- Verwirrung, wem man glauben soll
- Vergleich mit Kindesmißbrauchvorkommnissen in weiteren Personenkreisen in der Kirche und in anderen Bereichen der Gesellschaft
- Entsetzen und Ärger über Vertuschung durch Bistumsverantwortliche
- Scham, dass man selber von einem Täter getäuscht wurde und nicht geholfen hat
- Erleichterung, selber kein Opfer sexuellen Missbrauchs geworden zu sein (oder keines der eigenen Kinder oder Familienangehörigen)
- Erinnerung, Schmerz und Leid, weil man selber oder jemand Nahestehendes Opfer von Missbrauch geworden ist
- Unsicherheit, ob man selber alles richtig macht, und Angst vor falschem Verdacht
- Die Frage: Kann ich in so einer Kirche überhaupt noch aktiv sein?
Gerade dort, wo Täter im Gutachten mit Klarnamen genannt oder identifiziert wurden, beobachten oder befürchten Sie möglicherweise Dynamiken, die die Seelsorge und Arbeit in der Gemeinde belasten. In jedem Fall stehen Sie vor der Frage: Wie gehen wir als Gemeinde mit diesem (neuen) Wissen um?
Mit dieser Frage wollen wir Sie nicht allein lassen. Ich ermutige Sie ausdrücklich, sich dieser Frage zu stellen. Wir wollen Sie dabei unterstützen, Raum und Möglichkeiten für offene und einfühlsame Gespräche anzubieten und sich auf einen Prozess der Reflexion und Aufarbeitung einzulassen. Das Leid der betroffenen Kinder und Jugendlichen muss dabei im Vordergrund stehen: Aufarbeitung soll dazu beitragen, den Betroffenen Gerechtigkeit zu verschaffen und Kinder, Jugendliche sowie erwachsene Schutzbefohlene bestmöglich vor sexualisierter Gewalt zu schützen – heute und in Zukunft.
Ich biete Ihnen daher an, als Erzbischof in Ihre Pfarrei bzw. Gemeinde zu kommen, um gemeinsam mit Fachleuten aus Intervention, Aufarbeitung und Prävention mit Ihnen und interessierten Gemeindemitgliedern ins Gespräch zu kommen. Wir wollen einen geschützten Raum für offenen Austausch bieten, uns den Emotionen und Fragen stellen, Schuld bzw. Pflichtverletzungen von Verantwortlichen und daraus resultierende Konsequenzen – soweit schon möglich – benennen und möglichen (weiteren) Betroffenen Hilfe anbieten und Ansprechpersonen nennen. Da das Thema sexualisierte Gewalt häufig eine eigene Dynamik entwickelt und Belastung für Teilnehmende bedeuten kann, würden unsere externen Ansprechpersonen ein solches Gespräch traumatherapeutisch begleiten.
Die Terminkoordination und weitere Absprachen übernimmt unsere Interventionsbeauftragte Birte Schneider: birte.schneider@erzbistumberlin.de, Tel: (030) 326 84-257.
Wenn eine Pfarrei bzw. eine Gemeinde einen eigenständigen und extern begleiteten Aufarbeitungsprozess beginnen möchte, sichere ich schon jetzt auch dafür Unterstützung zu.
Eine Lehre aus der Aufarbeitung sexualisierter Gewalt in der Katholischen Kirche lautet: Nur wo Menschen sexualisierte Gewalt nicht von vornherein ausschließen, wo sie Missbrauch für möglich halten, haben betroffene Kinder und Jugendliche eine Chance, dass ihre Hilferufe, ihre Signale und oft verschämten Mitteilungen auf offene Ohren stoßen. Dieses „Fürmöglichhalten“ wird oft als Generalverdacht bezeichnet und daher zurückgewiesen. Ich teile diese Einschätzung nicht. Das verlorene Vertrauen in die Kirche, ihre Institutionen und Personen schmerzt mich, es ist aber angesichts der traurigen Realität berechtigt und nicht zu ändern. Das verlorene Vertrauen zu beklagen hilft uns nicht, wenn es darum geht, Anvertraute zu schützen und zu stärken und nachhaltige Hilfe zu bieten. Vertrauen gewinnen wir nur zurück durch Transparenz im eigenen Handeln und klare Regeln für sensible Nah- und Abhängigkeitssituationen, wie in den Institutionellen Schutzkonzepten vorgesehen. Diese sind nicht gedacht, um Misstrauen schüren, sondern blindes Vertrauen und Wegschauen zu verhindern.
Ich freue mich auf Ihre Rückmeldung.
Im Vertrauen auf Gottes Hilfe und gute Zusage
Ihr Dr. Heiner Koch“