Gebetsaufruf aus Anlass der Abstimmung des Deutschen Bundestages zur Sterbehilfe

Liebe Schwestern und Brüder,

in der kommenden Woche wird der Deutsche Bundestag über eine gesetzliche Neuregelung der Sterbehilfe abstimmen. Im Hintergrund steht ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 2020. Mit ihm hat das Gericht das freie Recht einer jeden Person – ob jung oder alt, gesund oder krank – festgestellt, zu einem von ihr gewählten Zeitpunkt dem eigenen Leben ein Ende zu setzen. Dazu dürfe, so das Gericht, auch von anderen Menschen angebotene Hilfe („Assistenz“) in Anspruch genommen werden.

Ich möchte vor diesem Hintergrund zuerst allen denen von Herzen danken, die Menschen in den verschiedensten Lebenskrisen, in schwerer Krankheit und auch im Zu-gehen auf den eigenen Tod umsorgen und begleiten: Ich denke an die Familien und Freunde, an die unmittelbaren Zu- und Angehörigen der Betroffenen. Wir sind Ihnen eng verbunden! Ich denke aber auch an die vielen Menschen in den sozialen Diensten, in der ambulanten und stationären Pflege, in den medizinischen Einrichtungen, in den Hospizen, in der Seelsorge, die Tag für Tag für das Wohl ihrer Mitmenschen eintreten.

Aus christlicher Perspektive steht das große „Ja“ zum Leben, das Gott gesprochen hat, als Wert über allem. Das Leben steht nicht in der freien Verfügung des Menschen. Es ist ihm anvertraut. Wir als Kirche betrachten den Schutz des menschlichen Lebens von seinem Anfang bis zu seinem Ende, auch in seinen Widrigkeiten und Konfliktlagen, als eine der wichtigsten Aufgaben in unserer Zeit. Wir wollen mitwirken an einer „Kultur des Lebens“, wie der heilige Papst Johannes Paul II. sagte, und nicht an einer „Kultur des Todes“. Wir wollen mithelfen, die Gewissen zu bilden, damit sie zu guten Urteilen gelangen.

Wir sehen die große Not aller Menschen, die von Krankheit, Leid und Tod bedrängt sind. Wir wollen und wir werden ihnen als Kirche weiterhin mit allen unseren Kräften zur Seite stehen. Wir verurteilen keinen Menschen, der seine Not nicht mehr aushalten kann oder sich anderen Menschen aufgrund seines Leidens nicht mehr zumuten möchte. Wir glauben zugleich, dass ein Leben immer einen Sinn und einen Wert hat, auch wenn wir ihn nicht erkennen.

Ich möchte Sie heute, liebe Schwester und Brüdern, bitten: Halten wir die Menschen, die gerade in den schwersten Prüfungen ihres Lebens stehen, in unserem Gebet. Beten wir auch für die gewählten Volksvertreterinnen und -vertreter im Deutschen Bundestag, auf dass sie durch umfassende Beratungen ihr Gewissen bilden und zu klugen Entscheidungen gelangen, die dem Wert des menschlichen Lebens gerecht werden.

Im Gebet verbunden, vor allem mit den Sterbenden und denen, die sie begleiten und pflegen,

Dr. Heiner Koch
Erzbischof von Berlin