Für viele Katholikinnen und Katholiken in und um Berlin war Alfred Bengsch noch lange nach seinem Tod 1979 einfach "der Kardinal". Selbst als seine Nachfolger Joachim Meisner, Georg Sterzinsky und Rainer Maria Woelki diesen Titel ebenfalls trugen. Doch der charismatische und nicht minder umstrittene Bischof prägte wie kein anderer das 1930 gegründete Bistum Berlin. Eine am Montagabend beendete Tagung von Theologen und Historikern in der Berliner Katholischen Akademie zu dessen 100. Geburtstag am 10. September warf Schlaglichter auf seine historische Bedeutung.
Sie ist untrennbar mit der deutschen Teilung nach 1945 verbunden, wie Stefan Samerski (Berlin), Autor einer neuen Biografie über Bengsch betonte. Nach 1958 durfte der damalige Berliner Bischof, Kardinal Julius Döpfner (1913-1976), wegen seines "kämpferischen Kurses" gegen die kirchenfeindliche Politik des SED-Regimes, wie es Michael Höhle (Berlin) nannte, die in der DDR liegenden Teile des Bistums nicht mehr besuchen. Bereits damals kam Bengsch, der 1959 im Alter von 38 Jahren Weihbischof mit Sitz in Ost-Berlin wurde, eine wichtige Rolle zu. Mit der Abberufung Döpfners an die Spitze des Erzbistums München und Freising suchte der Vatikan aber einen nachhaltigen Ausweg aus der verfahrenen Situation.
Bei der Suche nach einem Nachfolger fiel die Wahl im Juli 1961 auf den Bengsch, der sich nach den Worten von Stephan Mokry (Freising) bereits als wissenschaftlich ausgewiesener Theologe und mitreißender Prediger bekannt war. Der Zeitpunkt hätte kaum dramatischer sein können: Am 13. August ließ die DDR-Regierung die Berliner Mauer errichten. Sie riegelte West-Berlin und damit auch den dort liegenden Teil des Bistums fast ganz ab. Drei Tage später wurde die Ernennung Bengschs zum Berliner Bischof bekannt gegeben.
In das mit der "Frontstadt Berlin verbundene politische Geschäft musste er sich erst hineintasten", so Samerski. Dann aber vollzog Bengsch eine im Vergleich mit Döpfner fast vollständige Kehrtwende, mit der er den Kurs der katholischen Kirche in Ostdeutschland fast bis zum Ende der DDR prägte. Es war der weitestgehende Verzicht auf Stellungnahmen zu tagespolitischen Themen, um die Kirche im Gegenzug vor Angriffen durch das kommunistische Regime zu bewahren. Im Zusammenhang damit gab Bengsch der "Einheit um jeden Preis" in der Kirche höchste Priorität. Darauf verpflichtete er auch seine Amtsbrüder in der von ihm geleiteten ostdeutschen Berliner Bischofskonferenz. Es beeinflusste die vergleichsweise starke politische Zurückhaltung auch in den Jahren bis zum Mauerfall.
Bis heute ist dieser Kurs umstritten. So gelang es der katholischen Kirche in der DDR zwar, sich im Unterschied zur evangelischen einer staatlicher Einflussnahme weitgehend zu entziehen. Andererseits unterband Bengsch nach Aussage von Martin Fischer (Erfurt) die Forderungen auch von Katholiken in der DDR nach mehr gesellschaftlicher Beteiligung, wie sie etwa in der Dresdner Pastoralsynode von 1973 bis 1975 laut wurden.
Vor einer unbedachten Öffnung der Kirche gegenüber der Welt, die kommunistische Regime ausnutzen könnten, hatte Bengsch bereits 1965 beim Zweiten Vatikanischen Konzil gewarnt. Damals stimmte er als einer von wenigen Bischöfen gegen das Dokument "Gaudium et Spes" ("Freude und Hoffnung"), das sich für eine solches Engagement der Christen aussprach. Das Konzil insgesamt hatte Bengsch indes durchaus begrüßt. So setzte er die davon ausgehende Reform des Gottesdienstes mit großem persönlichen Einsatz im Bistum Berlin um, wie Christopher Tschorn (Berlin) darlegte.
West-Berlin, wo Bengsch in Schöneberg geboren und aufgewachsen war, durfte er als Bischof zunächst nur an zehn und später an 30 Tagen im Quartal besuchen. Dabei "inszenierte" er sich nach Erkenntnissen von Ruth Jung (Bonn) als "Wahrer der Einheit" und ist bis heute als humorvoller und schlagfertiger Seelsorger bekannt. Dennoch wuchs auch dort vor allem nach 1968 die Kritik an seiner kirchenpolitischen Linie und nahmen "persönliche Anfeindungen" zu.
So fühlte Bengsch sich im Jahrzehnt vor seinem frühen Tod mit 58 Jahren zunehmend "unverstanden", wie es Sebastian Holzbrecher (Hamburg) formulierte. Dazu trugen auch die Bestrebungen im Vatikan bei, die Bistumsgrenzen mit den innerdeutschen in Deckung zu bringen. Auch das wusste Bengsch zeitlebens zu verhindern, bevor Papst Johannes Paul II. die Pläne stoppte. Auch damit erwies er sich nach den Worten von Roland Czerny-Werner (Salzburg) als "einer der wichtigsten Protagonisten der vatikanischen Ostpolitik".