„Nicht daran gewöhnen, dass Menschen Leid verursachen“ Weihnachtspredigt 2024 von Erzbischof Dr. Heiner Koch

Fünf Mal scheint in unserer wiedereröffneten Sankt Hedwigs-Kathedrale das Weihnachtsevangelium von der Menschwerdung Gottes auf:

Im Gebäude selbst:

  • Im Giebelrelief über dem Eingangsportal, das die Geburt Jesu und die Anbetung durch die Drei Heiligen Könige zeigt.
  • In den Fenstern der Kathedrale, die den Sternenhimmel zur Zeit der Geburt Jesu Christi zeigen, die für uns zur wirklichen Zeitenwende wurde.
  • In der Neapolitanischen Krippe in der Krypta von Sankt Hedwig: in dem bunten und vielfältigen Leben dieser Stadt wird die Geburt Jesu auch in unseren Tagen lebendig vergegenwärtigt.

In den Menschen:

  • Im Altar, der für Christus steht und das Zentrum von Sankt Hedwig bildet, in den Menschen Steine ihres Lebens haben einschmelzen lassen als Zeichen ihrer Verbindung mit Christus. Christus hat uns aufgenommen, er gehört zu uns und wir zu ihm in alle Ewigkeit: Er verlässt uns nicht.
  • Ich habe in diesen Tagen der Wiedereröffnung so viele Begegnungen mit Menschen, die diese Kirche aufsuchten, erleben dürfen, mit Christ-Gläubigen und mit Menschen, die diesen Glauben nicht kennen oder nicht teilen, in denen mir die Weihnachtsbotschaft aufleuchtete. Bei dem Gottesdienst mit den Armen unserer Stadt Berlin etwa hat mir einer der Obdachlosen dreimal den Stein im Altar gezeigt, den er am Fronleichnamsfest vor eineinhalb Jahren für den Altar übergegeben habe: In seinem Lächeln erlebte ich die kraftvolle Aussage des Weihnachtsfestes über das Geheimnis und die Größe und Würde eines jeden Menschen: Du, Mensch, bist groß, Du bist einmalig in Deinen Möglichkeiten und Grenzen, in Deiner Geschichte, mit Deinen Eltern und den Menschen an Deiner Seite, mit den Herausforderungen und Aufgaben, die sich Dir stellen und die nur Du mit Deinen Kräften, Deinen Möglichkeiten und Grenzen erfüllen kannst. Mensch, Du bist groß, denn mit Dir hat sich Gott an Weihnachten verbunden und nichts und niemand kann Dir diese Deine Größe und Würde rauben.

Gott, der Mensch wird. Und auf diese Weise jeden Menschen auszeichnet – das ist zentrale Botschaft unserer Kathedrale. Diese Botschaft ist auch die Grundlage unseres Grundgesetzes. Im diesem zu Ende gehenden Jahr haben wir den 75. Jahrestag unseres Grundgesetzes gefeiert, in dessen Zentrum in Artikel 1 der Satz steht: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Die Weihnachtsbotschaft verkündet, dass diese Würde zutiefst unantastbar ist, weil Gott in jedem Menschen aufstrahlt und lebt und nichts uns von seiner Liebe trennen kann. In ihm sind wir Gott sogar ebenbildlich.

Deshalb dürfen wir uns nie daran gewöhnen, dass menschliches Leben auf dieser Erde sich nicht entfalten kann, behindert oder sogar verhindert oder vernichtet wird:

Wir dürfen uns nicht daran gewöhnen, dass Menschen Unfrieden säen, unsägliches Leid verursachen und unsere Gesellschaft spalten wollen. Wir dürfen uns nicht daran gewöhnen, weil an Weihnachten Gott Mensch geworden ist, einer von uns, ein verletzlicher Mensch. Weihnachten ist gleichzeitig das Fest der Ohnmacht und der Hoffnung! Und in diesem Jahr besonders das Fest der Trauer und des Mit-Leidens mit den Opfern von Magdeburg.

Wir dürfen uns nicht daran gewöhnen, dass so vielen ungeborenen Kindern das Lebensrecht abgesprochen wird und sie nicht lebend das Licht der Welt erblicken. Wir dürfen uns aber auch nicht daran gewöhnen, dass Mütter und Väter unter solchen Belastungen stehen, dass sie sich nicht in der Lage sehen, menschliches Leben bilden und wachsen zu lassen.

Wir dürfen uns nicht daran gewöhnen, dass in unserer Gesellschaft Menschen in ihrer Armut im Abseits stehen und ihnen Lebenssicherheit und Bildung verweigert wird und sie so ihr Leben nicht entfalten können.

Wir dürfen uns nicht damit abfinden, dass Menschen wegen ihres Glaubens angegriffen und verächtlich gemacht werden.
Wir dürfen nicht zuschauen, dass flüchtende und aus ihrer Heimat vertriebene Menschen bei uns nicht Schutz und Zuflucht finden.
Wir dürfen uns nicht damit zufriedengeben, dass Menschen mit schweren Behinderungen sich herausgefordert fühlen, zu begründen, warum sie nicht besser abgetrieben worden seien.

Wir dürfen uns nicht daran gewöhnen, dass Menschen wegen ihrer sexuellen Orientierung in unserer Gesellschaft diskriminiert werden und sie keine Wertschätzung erfahren.

Wir dürfen uns nicht daran gewöhnen, dass so viele Tausend Menschen in der Ukraine und an anderen Kriegsorten dieser Welt getötet werden, ohnmächtig den Mächtigen ausgesetzt.

Wir dürfen uns vor allem als Christen daran nicht gewöhnen, weil an Weihnachten Gott Mensch geworden ist, einer von uns, einer von diesen in ihrem Leben gefährdeten Menschen!

Lasst uns nach Bethlehem gehen, um das Ereignis der Menschwerdung Gottes zu sehen, für den es auf dieser Erde keinen Platz gab. (vgl. Lk 2,15b).