"Wir sind ja nicht als Obdachlose auf die Welt gekommen"Vor 125 Jahren wurde in Berlin die erste Bahnhofsmission gegründet

Berlin (KNA) Wenn er nicht einschlafen kann, dann macht sich Gerhard T. auf den Weg, allein durch die Großstadt, mitten in der Nacht. "Ich wache jede halbe Stunde auf, und dann gehe ich zur Bahnhofsmission, weil die Leute hier nett sind und ich mich ein bisschen unterhalten kann", erzählt der 80-Jährige.

Der Rentner ist einer von zwei Millionen Menschen, die jährlich eine der bundesweit 104 Bahnhofsmissionen aufsuchen. Seit 125 Jahren gibt es die Einrichtung. Sie wurde in Berlin erfunden: Das Jubiläum wird am Freitag in der Hauptstadt mit einem Festakt gefeiert, zu dem neben Bundesfamilienministerin Franziska Giffey auch Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller (beide SPD) und Erzbischof Heiner Koch erwartet werden.

1894 am Schlesischen Bahnhof, dem heutigen Berliner Ostbahnhof, gegründet, war sie "am Anfang von Frauen für Frauen gedacht", erzählt Gisela Sauter-Ackermann, katholische Geschäftsführerin der ökumenischen Konferenz für Kirchliche Bahnhofsmission, dem bundesweiten Träger seit 1910. Frauen aus den katholischen, evangelischen und jüdischen Gemeinden wollten damit jungen Mädchen, die kurz vor der Jahrhundertwende aus ländlichen Gebieten auf Arbeitssuche nach Berlin kamen und Opfer von sozialer und sexueller Ausbeutung wurden, "eine Lebensperspektive bieten".

Die Idee machte Schule: Vier Jahre später wurde eine zweite Einrichtung in München gegründet, mittlerweile gibt es sie auch in kleinen und mittleren Städten. Die Kosten werden aus staatlichen Mitteln, Kirchensteuern und Spenden zu je einem Drittel gedeckt. Die Räume stellt die Deutsche Bahn kostenfrei zur Verfügung.

Längst hat sich die Klientel gewandelt, seit langer Zeit sind die "Gäste", wie Sauter-Ackermann sie nennt, nicht mehr nur junge Frauen - im Gegenteil: Zwei Drittel sind Männer, meistens im Alter zwischen 27 und 65 Jahren. Geschlecht, Nationalität, Hautfarbe oder Religionszugehörigkeit spielen in der Einrichtung aber ohnehin keine Rolle. "Unsere Zielgruppe ist bunt gemischt. Jeder ist willkommen", sagt sie.

Dazu gehören Reisende "mit Fahrkarte", die am Bahnhof ein- oder umsteigen und dabei helfende Hände benötigen oder etwa ein akutes Problem wie ein verlorenes Portemonnaie haben. Diese machen bundesweit etwa ein Viertel aller Ratsuchenden aus. Und dann gibt es noch die Gruppe jener Menschen "ohne Fahrkarte" mit existenziellen Sorgen, die wohnungslos, alkoholkrank, verarmt oder verzweifelt sind.

Eine Tasse Kaffee, ein Beratungsgespräch: 400 hauptamtliche Mitarbeiter gibt es bundesweit, dazu 2.000 Ehrenamtliche, die ein offenes Ohr für die verschiedenen Anliegen haben, sei es ein verlorenes Handy oder einen Rausschmiss aus der Wohnung.

"Wir orientieren uns daran, was die Menschen brauchen", sagt Sauter-Ackermann - je nach Zeit und gesellschaftlichem Umfeld ändere sich das auch. "Kids on tour" heißt etwa ein aktuelles Programm, das sich daran anpasst, dass "Eltern heute getrennt leben oder die Großeltern in einer anderen Stadt sind". 8.500 Kinder, die zumeist übers Wochenende allein verreisen, werden jährlich durch Mitarbeiter der Bahnhofsmission begleitet.

Nach dem Ersten Weltkrieg und Zweiten Weltkrieg etwa waren es hauptsächlich zurückkehrende Soldaten oder Flüchtlinge, die in der Einrichtung beraten wurden. Dazwischen, zur NS-Zeit, wurden die Bahnhofsmissionen dicht gemacht. "Der Schienenverkehr war kriegsrelevant. Das wollte man keinem kirchlichen Dienst überlassen", sagt Sauter-Ackermann.

Bis zur Teilung Deutschlands betreute die Bahnhofsmission die "Intersektorenreisen" zwischen Ost und West. Wegen des "unberechtigten Vorwurfs der Spionage für den Westen" wurden die ostdeutschen Bahnhofsmissionen 1956 von den Behörden der DDR bis zur Wende verboten - einzig die Station am Ostbahnhof schloss auch während der DDR-Zeit ihre Pforten nicht. Im Westen kamen in den 1960er Jahren die Gastarbeiter, seit 2015/16 sind es vermehrt auch Flüchtlinge.

Auffällig sei, dass "seit etwa elf Jahren der Anteil der Menschen, die mehrere soziale Probleme gleichzeitig haben, steigt - also etwa eine psychische Erkrankung, keine Arbeit und keine Wohnung", so Sauter-Ackermann. Im Jahr 2008 machte deren Anteil demnach rund 40 Prozent aus, im Jahr 2017 waren es 55 Prozent. Auch gebe es gerade in den Metropolen immer mehr einsame Menschen, die sich an die Mission wenden. "Die mischen sich hier am Bahnhof in die Menge, wollen durch Beobachten teilhaben", so die Geschäftsführerin. Manche hätten auch einen Hang zur Technik oder "lieben das Quirlige".

Einer der Menschen, die nicht mehr mitkommen, ist Hans-Jürgen Guthold. Seit sieben Jahren lebt er am Ostbahnhof, arbeitete vor seiner Obdachlosigkeit etwa 15 Jahre als Altenpfleger auf einer Demenzstation. Früher hatte er ein Zuhause, ein Auto. Zwei Mal pro Tag kommt er jetzt zur Mission, um etwas zu essen und einfach mal irgendwo in Ruhe sitzen zu können - ohne dass ihn jemand verjagt. "Wir sind ja nicht als Obdachlose auf die Welt gekommen", sagt er. Es könne jeden treffen.