Als Berliner Erzbischof habe ich viele Ratgeber. Wenn zum Beispiel eine Demonstration gegen Abtreibung ansteht, höre ich von manchen: „An dieser Demonstration für den Schutz der ungeborenen Kinder dürfen Sie, Herr Bischof, auf keinen Fall teilnehmen, da gehen doch rechtsradikale Gruppen mit.“ Oder: „An der Demonstration gegen den Rechtspopulismus dürfen Sie, Herr Bischof, auf keinen Fall teilnehmen, da gehen doch linksradikale Gruppen mit.“ Mir wird also geraten, nur dann an einer Demonstration teilzunehmen, wenn alles „stimmt“: bei Gruppen, gegen die nichts zu sagen ist, bei Thesen, die unanfechtbar sind, bei Rednern, die sich ausgewogen genug äußern, bei Parolen, die genügend differenzieren, bei Liedern, die nicht missverstanden werden können. Das Ergebnis der ganzen Einwände wäre: Bis zum Sankt Nimmerleinstag würde ich zu kaum einer Demonstration gehen können, weil keine Protestkundgebung je diese Ansprüche erfüllen kann und wird. Entweder 100 Prozent richtig oder es geht gar nicht – das ist ein Leitmotiv, welches wunderbar in einer Welt funktioniert, die nur aus Schwarz und Weiß besteht. Zum Glück leben wir nicht in solch einer Welt.
Denn: Vieles ist nicht so klar wie wir es gerne hätten. Und: wir dürfen nicht für klar erklären, was nicht einfach und nicht klar ist. Trotzdem müssen Entscheidungen gefällt werden. Manchmal aus dem Bauch heraus. Das ist nicht immer das Schlechteste. Aber viele große Entscheidungen trifft man besser rational und dialektisch. Ich kann immer nur nach bestem Wissen und Gewissen abwägen, die mir erkennbaren Konsequenzen bedenken und dann nach erfolgter guter Erörterung und Beratung zu verantwortungsbewussten Entscheidungen kommen. Diese sind ja gerade deshalb so schwierig, weil jede Entscheidung immer auch eine Entscheidung gegen andere Aspekte, Möglichkeiten und Argumente ist.
Wir müssen wieder mehr versuchen, in Entscheidungsprozessen die Ambivalenzen auszuhalten und dürfen die eine Seite nicht gegen die andere ausspielen. Bei alldem gilt: Wir sind und bleiben Lernende. Wer zu lernen bereit ist, weiß, dass weder der einzelne Mensch noch die Gesellschaft noch die Welt oder die Kirche perfekt waren, sind oder sein werden.
Ich wünsche Ihnen ein gesegnetes Wochenende!