Antikrist

Ausgerechnet die „Stimme Gottes“ ist nackt – in der Person des Sängers Jonas Grundner-Culemann –auf der Bühne, überlebensgroß und stranguliert als Skulptur vom Schnürboden hängend, allerdings mit einer Vulva, um „der im Christentum männlich geprägten Figur Gottes etwas Genderfluides entgegensetzen“, so Regisseur Ersan Mondtag im Programmheft zur Oper Antikrist des dänischen Komponisten Rued Langgaard.

Nein, es ist nicht blasphemisch, was der Regisseur sich da ausgedacht hat, es ist der Versuch über groteske Masken und Kostüme dem überwiegend allegorischen „Personal“ der Oper mit Namen wie „Die Rätselstimmung“, „Der Mund, der große Worte spricht“ oder „Der Missmut“ Ausdruck zu verleihen. Am ehesten als Personen zu begreifen sind in Langgaards Libretto noch Figuren wie „Luzifer“ und „Die große Hure“. Letztlich sind sie alle nackt, tragen entweder eng anliegende Body Suits, auf denen die Nacktheit aufgemalt ist, oder Fat Suits mit dicken Bäuchen und hängenden Brüsten. Maske und Kostüm haben ganze Arbeit geleistet und bizarre „Höllengestalten und Horrorfiguren, mit Hörnern, fleischig und blutig“ geschaffen, so Mondtag weiter. Es wird alles aufgefahren, um Geilheit und Schrecken gleichermaßen zum Ausdruck zu bringen, und wirkt doch stets distanziert und ironisch gebrochen. Dass sich Angst und Schrecken im Publikum nicht so recht einstellen wollen, liegt auch daran, dass die Musik von Rued Langgaard zwar auch dissonant, erschreckend und spannungsreich ist, aber letztlich vor allem viel Spaß macht. Es ist keine Wollust aber eine Lust zuzuhören.

Auch wenn bei Maske, Kostüm und Bühnenbild alles sorgfältige Handarbeit ist– der Regisseur selbst denkt „von den Werkstätten aus“ – kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, man verfolge ein grell buntes animiertes Musikvideo: ein gemaltes Bühnenbild, bemalte Körper, bemalte fratzenhafte Masken, alles wirkt wie perfekt animiert. Allzu gern folgt man dem Rat der Dramaturgin Carolin Müller-Dohle in der Werkeinführung, sich auf die Texte des Librettos nicht einzulassen, sondern die ganze Aufführung als „eine Reise“, mehr noch als „einen Trip“ (einfach weil es in der deutschen Verwendung mehrdeutiger klingt) zu verstehen, und sich von der spannenden und hoch originellen Tonspur mitnehmen zu lassen.
Denn weder aus der Inszenierung noch durch die Übertitel – teilweise in der englischen Übersetzung einfacher zu verstehen als in der deutschen stark altertümelnden Version – lässt sich ein dramatischer Bogen erkennen. Umso schöner ist es dramaturgisch gelöst in einem wirklich gelungenen Zusammenspiel von Ausstattung, Bühnenbild, Maske, Tanzchoreografie sowie Solo- und Chor-Gesang und Musik.

Vom „Personal“ ist Antikrist eine sehr eigenwillige Version eines apokalyptischen Stoffs, die Anklänge an die Offenbarung des Johannes, das letzte Buch der Bibel sind zu deutlich und werden immer wieder beschworen. Doch anders als im biblischen Text kommt die Geschichte nicht wirklich an ihr Ende. Das Libretto des Antikrist wirkt eher wie eine Versuchsanordnung, ein philosophisch-theologisches Oberseminar über Dekadenz, Glaubensabfall, Größenwahn, Materialismus, Begierde, Wollust, Hass und Lüge.

Eingeführt wird das Ganze durch einen Prolog, der eher an Goethes Faust oder das Buch Hiob erinnert. „Gottes Stimme duldet die Präsenz des Antichrist. Er soll sich zeitweilig den Menschen offenbaren“, heißt es im Programmheft; mal schauen, was passiert, möchte man fast ergänzen.

Nach zwei Akten und fünf Bildern bricht dann die wortreich beschworene Apokalypse ab. „Gottes Stimme vernichtet den Antichrist und beendet dessen Herrschaft auf Erden. Die Menschheit ist erlöst und preist den himmlischen Frieden Gottes.“ „Gottes Stimme“ als Deus ex machina muss auch gar nicht kämpfen, nur kurz singen und schon stimmt der Chor der Deutschen Oper einen fugierten Choral nach allen Regeln protestantischer Kirchenmusik-Kunst an, der Trip hat ein Ende.

Ein – seltenes – Happy End, ein Aufwachen aus dem Opern-„Trip“ ohne Kopfschmerzen, ohne Nebenwirkungen oder gar schlechte Träume.

Und auch das Ende erinnert zwar ein wenig an die biblische Apokalypse, an den Sieg des Lammes (das für Christus steht) aber doch sehr viel mehr an die plötzliche Wiederherstellung Hiobs, die ohne erlittene Verluste zu betrauern, die vorherige Ordnung wiederherstellt.

Ob Langgaard mit dieser Inszenierung einverstanden gewesen wäre? Rund einhundert Jahre nach Entstehung seiner einzigen Oper könnte man ihm auch zurufen: Sei froh, dass Antikrist überhaupt aufgeführt wird! Wegen des überambitionierten Librettos wurde sein Ansinnen einer Aufführung sogar mehrmals zu seinen Lebzeiten abgelehnt. Und Ersan Mondtag ignoriert Langgaards Libretto deshalb „ein Stück weit“, weil sich die „zum Teil sehr konkreten szenischen Vorstellungen (…) auf der Bühne nicht direkt umsetzen“ lassen. Ich (…) konzentriere mich auf die Übertragung der Musik vom Orchestergraben auf die Bühne.“ Und das macht einfach sehr viel Freude, dem Ensemble – einschließlich großartiger Tänzerinnen und Tänzer – dabei zuzusehen. Denn: „Es ist längst nicht nur das, was man sich als Regisseur ausdenkt oder was auf der Bühne gespielt wird – es ist ein großer Betrieb mit mehreren hundert Mitarbeitern*innen, die zusammenwirken, um am Ende ein Bühnenerlebnis hervorzubringen.“

1920 geschrieben, 2022 auf eine Berliner Bühne gebracht, hat Antikrist eine aktuelle Botschaft? Die drohend-ängstlich mahnende Grundstimmung des Komponisten wird es keinesfalls sein. Ersan Mondtag verzichtet auf Anspielungen an Naturkatastrophen und Kriegsszenarien, auf die vermeintlich unabwendbare Corona-, Klima- oder Ukrainekrise. Auch das naheliegende „Babylon Berlin“ oder „Vulkan Berlin“ der 20er-Jahre läge nahe, aber die grellbunte Bühnenstraße – wie auch ein herabstürzendes Taxi – ist eher New York als Kreuzberg oder Ku’damm. Und auch eine christlich-theologische Aneignung ist vermutlich vergebene Liebesmüh. Der Regisseur möchte mit seiner grell-bunten Geisterbahn-Inszenierung „der facettenreichen, überraschend süffigen Partitur genug Raum geben, um entdeckt zu werden“. Und das ist gelungen.